Presseartikel
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Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freund:innen, Fans und Förderer,
wir möchten Ihnen und Euch aus aktuellem Anlass Änderungen zur Laufzeit der Container City mitteilen.
Schon im Sommer haben die Künstler:innen des Kunstverein Wagenhalle begonnen, ihre Ateliers in der Container City zurückzubauen, da die Frist zur Nutzung der Flächen zum 31. Oktober endet.
Die Stadt plant ab diesem Zeitpunkt Vergrämungsmaßnahmen für den Tierbestand, um dann darauffolgende Baumaßnahmen für die zukünftige „Maker City Rosenstein“ durchzuführen. Zwischenzeitlich konnte laut Stadt Mitte September eine zeitliche Optimierung der notwendigen Maßnahmen vorgenommen werden. Die Maßnahmen müssen nicht mehr in zwei Abschnitten in den Jahren 2023 und 2024 durchgeführt werden, was nun zur Folge hat, dass die Vergrämungsmaßnahmen in einem Zug im Jahr 2024 durchgeführt werden können.
Da wir schon mit dem Rückbau der Container City begonnen hatten, mussten wir hierfür erst interne Abläufe klären, bevor wir die Entscheidung der Stadt zur Laufzeitverlängerung der Container City der Öffentlichkeit bekannt geben.
Wir freuen uns auf weitere intensive Monate im Kulturschutzgebiet und hoffen Sie dort spätestens im nächsten Frühling zu vielfältigen Veranstaltungen begrüßen zu dürfen!!
Wir freuen uns außerdem über unsere Publikation „Kultur, Schutz, Gebiet – Container City 2016 -2023“, die zum Tag der offenen Tür im Oktober erschienen ist. Mit dem Buch möchten wir nicht nur gemeinsam auf ereignisreiche Jahre zurückzublicken und die Container City in Erinnerung behalten, sondern neben der Dokumentation ihrer Entstehung, ihrer Nutzung und ihrem Einfluss auf den städtebaulichen Wettbewerb Rosenstein, wagen wir darin auch einen Blick in eine mögliche Zukunft des Areals. Die Publikation können Sie für 25,- direkt bei uns bestellen. Demnächst wird sie auch im Stuttgarter Buchhandel erhältlich sein.
Mit freundlichen Grüßen,
Robin Bischoff
1. Vorsitzender des Kunstverein Wagenhalle e. V.
Popcornhirn und Sternenreise
Seit 18 Jahren arbeiten die Künstler:innen des Kunstvereins Wagenhalle am Stuttgarter Nordbahnhof, in der einstigen Instandsetzungshalle der königlich-württembergischen Eisenbahn. Nun präsentieren sie beim ersten Film-Kunst-Fest an der Wagenhalle Filme, die die Vielfalt ihrer Arbeit widerspiegeln.

Eigentlich war es überfällig: Unter den Künstler:innen des Kunstvereins Wagenhalle sind viele, die sich mit Film beschäftigen, eigene Langfilme, Dokumentationen produzierten oder bewegte Bilder in ihre Arbeit integrieren. Doch erst während der Pandemie fanden sie zu einer Gruppe zusammen.
„Im Lockdown haben wir uns zuerst im Zoom getroffen“, erzählt Kristina Arlekinova, die künstlerische Leiterin des Festivals. „Unsere Idee war, zuerst einmal herauszufinden, wer sich in der Wagenhalle überhaupt mit Bewegtbildern beschäftigt.“ Das Ergebnis: 28 von insgesamt rund 150 Mitgliedern des Kunstvereins arbeiten auch oder ausschließlich im Medium Film. Genügend Material, genügend unterschiedliche Ansätze also, fand die Gruppe, um ein kleines Festival zu veranstalten – und machte sich daran, das umzusetzen.
Das erste Film-Kunst-Fest an der Wagenhalle hat am vergangenen Wochenende begonnen. Die Wiese bei der Container-City wurde zum Open-Air-Kino mit Bar, Falafelstand und Popcornstation, während im Projektraum der Wagenhalle eine Ausstellung der Filmkunst eröffnete, die noch bis zum 31. Juli zu sehen sein wird. Am kommenden Wochenende, am Freitag, 29. und Sonntag, 31. Juli, geht auch das Filmfest auf der Wiese weiter. Kurzfilme, Experimentalfilme, Dokumentarisches wird auf der großen Leinwand zu sehen sein, nebst einem abendfüllenden Film.
Langfilm der vergangenen Woche war „Mühlheim Texas – Helge Schneider hier und dort“. Andrea Roggon portraitiert darin Deutschlands witzigsten Vollblutmusiker. Am kommenden Sonntag läuft „Where’s the Beer and when do we get paid“, die Dokumentation, die Wiltrud Baier und Sigrun Köhler alias „Böller und Brot“ Jimmy Carl Black widmeten, dem Schlagzeuger der Mothers of Invention, der ersten Band Frank Zappas. Der mittlerweile verstorbene Black verbrachte seine letzten Jahre in Bayern. Seine Begegnungen mit den Blasmusikern dieses Bundeslandes sind unvergesslich.
Filme über Fundsachen und eine Radtour gen Den Haag
Die Eröffnung des Film-Kunst-Festes lockte mehr als 100 Gäste zur Wagenhalle. Die Stimmung war bestens, die Macher:innen sehr zufrieden. Robin Bischoff, Vorsitzender des Kunstvereins Wagenhalle, zeigte einen Film, für den er Konzerte zusammenschnitt, die anlässlich des 10. Jubiläums der Reihe FFUS (Für Flüssigkeiten und Schwingungen) stattfanden – wilde Musik, wilde Nächte.
Die Ausstellung im Projektraum der Wagenhalle ist das Herz des Festivals. Künstler:innen präsentieren dort Arbeiten, die filmische Mittel vor allem im Zusammenhang mit Installationen nutzen, und die dabei ganz unterschiedliche Wege gehen. Oft wird Kritik an Gesellschaft und Konsumverhalten artikuliert.
Kristina Arlekinova beispielsweise zeigt ein Gehirn aus Popcorn und Zuckerguss und eine filmische Erforschung unterschiedlicher Tropfenformen in vier Kurzfilmen. Álvaro García beschäftigt sich mit der Kunst des Wagenhallen-Künstlers Thomas Putze, Ramona Sophia Mohr mit Körperwahrnehmung und Ästhetik. Irina Rubina schuf einen gezeichneten Kurzfilm zur Jazz Musik („Jazz Orgie“), lässt abstrakte Formen tanzen. Pia Maria Martin, die lange an der Arbeit mit 16-Millimeter-Film festhielt, hat ihre Filme digitalisiert, zeigt sie in kreisförmiger Anordnung und verschachtelt so digitale und analoge Filmtechnik ineinander. Bei ihren Filmen handelt es sich um Stop-Motion-Animationen von Dingen, die auf dem Wagenhallengelände gefunden wurden und die nun zum Leben erwachen dürfen. Am kommenden Sonntag, dem letzten Tag des Film-Kunst-Festes, können Kinder in einem Workshop lernen, wie sie kleine Trickfilme mit ihren Smartphones aufnehmen können.

„Towards the Hague“ ist die knappe Dokumentation einer Radtour, die Sylvia Winkler und Stephan Köperl 2016 nach Den Haag unternahmen, zum internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien. Vorgelassen wurden sie nicht bei Gericht. Vor Ort zu filmen, wurde ihnen ebenfalls untersagt. Im Projektraum sind neben dem Film ihre umfangreichen Recherchematerialien zu sehen. Marie Lienhard indes lädt Besucher:innen ein, alle Schwere abzuschütteln, auf einer Schaukel Platz zu nehmen, eine VR-Brille aufzusetzen und wunderbar durch unbekannte Räume zu fliegen.
Künstler:innen und Eidechsen werden umgesiedelt
Bei all dem bunten Nebeneinander filmgewordener Kreativität ist das Film-Kunst-Fest auch ein Abschied, denn: Die Tage der Container-City sind gezählt. 2003 konnte der Abriss der Wagenhalle dank einer Initiative vieler politischer und kultureller Akteure gestoppt werden. 2017 begann die Sanierung der Halle, die Künstler:innen mussten ihre Ateliers räumen – und schufen auf dem Gelände vor der Halle ihre Stadt aus Containern, Arbeits- und Ausstellungsräumen, mit einem Marktplatz und der „Neuen Schachtel“ als Konzert-Location, Container für Live-Musik abseits von Mainstream und Kommerz. Ein Areal, auf dem sich viele Feste und Begegnungen zutrugen, ein Provisorium, von dem sie bis zuletzt hofften, dass es zur Institution werden könnte.
Der Beschluss der Stadt jedoch, auf eben diesem Gelände die Stuttgarter Interimsoper zu errichten, konnte nicht gekippt werden. Alternativen wurden diskutiert, längst aber steht fest: Ende Oktober muss das Containerdorf zurückgebaut werden. Die Eidechsen, die auf dem Gelände um die Container leben, werden dann ebenso umgesiedelt wie die Künstler:innen. Eine Baustellenzone kommt – und das Film-Kunst-Fest wird zum Fanal für die Container-City, diese Metropole der Stuttgarter Off-Kultur, zum letzten Happening und zum Selbstportrait, mit vielen Filmbildern, die in den Jahren dort entstanden, um Alltag und Atmosphäre zu bewahren.

Lisa Biedlingmaier hat das Containerdorf gefilmt, ganz zu Beginn. Ihre Arbeit ist Teil der Ausstellung im Projektraum der Wagenhalle, als einzelne Installation positioniert auf dem großen Würfel, der in diesem großen Raum steht: rund 30 Minuten lange, ruhige Filmsequenzen. Die Kamera schweift über das Gelände, betritt die einzelnen Container, driftet wieder hinaus. 2017, als diese Bilder entstanden, fand in Kassel und Athen die Documenta 14 statt; Radiosendungen zum Thema sind im Film zu hören, neben den Geräuschen der nahen Natur, des ebenfalls nahen Straßenverkehrs: Widersprüche, die aufeinandertreffen und die Container-City zu einem Raum zwischen den Welten werden lassen. Dazu, in der Ferne, die große Kunstschau, die Utopie. „Hearing about Athens“, hat Lisa Biedlingmaier ihren Film genannt.
Ein anderes Portrait des Kunstvereins zeichnet Anne Westermeyer in ihrem Langfilm „Weiber im Weltraum“: Sie besuchte alle Künstler:innen der Wagenhalle, drehte mit ihnen episodische Kurzfilme, improvisierte – die Zuschauer:innen erleben, auf witzig-absurde, oft überraschende Weise, was sich alles tut in den Ateliers: Skulptur, Malerei, Performance, Musik als Filmcollage einer Sternenreise am Stuttgarter Nordbahnhof. Westermeyers Film wird als letzter Beitrag zum Film-Kunst-Fest am Sonntagabend auf der Containerwiese zu sehen sein. 2023 dann soll es das nächste Film-Kunst-Fest an der Wagenhalle geben.
Die Baustelle vertreibt die Künstler

Wieder einmal müssen sich die Wagenhallen neu erfinden. Einige lieb gewordene Einrichtungen wie die Container-City oder der Stadtacker müssen weichen. Ihre Fläche wird für den Bau von Oper und Wohnungen gebraucht.
Am Bauzaun scheiden sich die Geister. 25 Meter entfernt sollte er eigentlich aufgebaut werden, die Baustelle von den Wagenhallen trennen. Doch nun gibt es Pläne, ihn zehn Meter näher an die Halle zu rücken. Was die Künstler irritiert. Denn sie brauchen die Fläche vor der Halle zum Rangieren, zum Verladen, zum Bauen, zum Lagern von mitunter großen Kunstwerken. In den nächsten Jahren wird dort am Nordbahnhof gebaut, entstehen Büros und Wohnungen sowie die Interimsoper direkt neben den Wagenhallen. Was wieder einmal ein Umbruch für das Gelände und die Menschen dort bedeutet.
Die Wagenhallen Ende der 90er Jahre zogen einige Künstler und Lebenskünstler in leer stehende Waggons neben die alte Bahnhalle, die wegen des Neubaus von S 21 nicht mehr gebraucht wurde. Es entstand ein seltenes Biotop, ein Raum, um sich zu testen und auszuprobieren. Mehrmals sollte die Halle weg, mittlerweile wurde sie für 25 Millionen Euro von der Stadt saniert. Der Kunstverein kümmert sich um die Belange seiner 150 Mitglieder, viele davon wohnen oder arbeiten auf dem Gelände.
Die Container-City Sie entstand in den letzten Jahren vor der Halle. Während der Sanierung und weil es eine lange Warteliste von Menschen gibt, die gerne ein Atelier in den Hallen hätten oder dort ein Projekt verwirklichen wollen. Nun muss sie weg, weil auf dem Gelände die Einrichtungsfläche für die Baustelle ist. „Das ist schon lange besprochen und klar“, sagen Sylvia Winkler und Robin Bischoff vom Kunstverein, „allerdings fallen auch alle unsere Grünflächen weg.“ Eine werde als Versickerungsfläche gebraucht, die andere überbaut. Da will man noch einmal vorfühlen. Immerhin darf die erste Reihe der Container-City noch bis Ende 2023 bleiben. Der Rest muss bis Ende des Jahres abgebaut werden. Mindestens drei Jahre müssen sie dann warten, bis sie dort den dann geplanten zentralen Platz nutzen können. „Das ist eine lange Zeit“, sagt Winkler, „vieles, was wir aufgebaut haben, reißt dann ab.“ So nutzt man etwa fürs Sommerfest an diesem Wochenende diese Flächen.
Der Bauzug Die Waggons müssen weg, weil dort gebaut wird. 1,5 Stellen sind vom Gemeinderat bereits bewilligt für ein Jahr wegen des Umzugs, die Kosten werden übernommen. Die neue Fläche ist auf Höhe der Gebäude Nordbahnhofstraße 165 und 163 A bis C. Allerdings müssen die erst abgerissen werden. Dies soll im Oktober geschehen. Ironie des Schicksals: Die Bauzug-Künstler waren bereits im Gebäude Nordbahnhofstraße 165 mit diversen Räumen und Ateliers, haben die geräumt, wegen des Abrisses. Elisa Bienzle von Bauzug 3YG: „Wir sind zufrieden mit der Lösung.“ Und ergänzt: „Wir hoffen, dass in Zukunft kulturelle Freiräume von vornerein mitgedacht werden.“
Stadtacker Die grundsätzliche Zusage, dass es weitergehen wird, haben auch die Gärtnerinnen und Gärtner vom Projekt Stadtacker. Doch die neue, recht schmale Heimat der Gemeinschaftsgärten ist noch vollgemüllt mit Bauschutt. Auf der einen Seite ist eine Kleingärtnersiedlung am Rande des Pragfriedhofs, auf der anderen Seite ein noch zu bauender Komplex der künftigen Maker-City, so wird dieser Bauabschnitt genannt. Volker Haefele, der die Öffentlichkeitsarbeit für den Stadtacker macht: „Da harken wir dann direkt vor den Fenster anderer herum.“ Diese jetzt vorgesehene Fläche entspricht nur der Hälfte der bisherigen 4000 Quadratmeter. Doch Haefele übt sich in Zuversicht: „Wir führen Gespräche mit der Stadt, wir suchen nach neuen Flächen.“ 1,5 Personalstellen hat der Gemeinderat auch hier zugesagt.
Fahrräder für Afrika Auf ehrenamtlicher Basis arbeitet der Verein Technik und Solidarität – Fahrräder für Afrika. Konkret heißt das: Da gibt es ein Lager für etwa 300 Fahrräder mit Werkstatt und Sortierbereich. Dort werden Fahrräder gesammelt, instand gesetzt und in einem Container nach Afrika gebracht. „In vielen ländlichen Regionen Afrikas gibt es kaum oder keine öffentlichen Transportmittel“, sagt der Erste Vorsitzende Holger Andris. „Die Leute müssen kilometerweit gehen. Gerade für Kinder sind weite Schulwege eine Belastung.“ Jetzt droht das Aus, da man ausreichende Lagerflächen braucht.
Contain’t Der Verein Contain’t kann flexibel reagieren. Denn es ist ja das Ziel des Vereins, ungenutzte Orte zu entdecken. Sie dürfen bis Ende 2023 in ihrem Containerbau bleiben. „2000 Quadratmeter sollten es künftig schon sein“, so Marco Trotta von Contain’t. Vorschläge gebe es einige, Konkretes aber noch nicht. Immerhin: „Auf den Ämtern kommt man uns mit viel Wohlwollen entgegen.“
Das Sommerfest
Wann, was, warum
Der Kunstverein Wagenhalle feiert am Samstag und Sonntag sein Sommerfest. Am Samstag, 2. Juli, von 14 Uhr an, am Sonntag von 16 Uhr an. Es gibt Workshops, einen Flohmarkt, Experimente, Kindertheater, Ausstellungen, Musik, Tango, Speisen und Getränke.
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Container City verabschiedet sich mit Sommerfestival

Im Rahmen der Umgestaltung von S21 und dem neuen Rosensteinquartier muss auch die selbstgestaltete Außenfläche „Container City“ bei den Wagenhallen weichen. Ein letztes Mal wird am 2. und 3. Juli beim Open-Air-Sommerfestival gefeiert.
Die Container City gehört zum Kunstverein Wagenhalle. Eines der Ziele des Vereins ist es Kunst- und Kulturschaffenden einen „günstigen kulturellen Arbeitsraum“ zur Verfügung zu stellen, erzählt Sylvia Winkler, Künstlerin und Mitglied im Vorstand des Kunstvereins. Der Bedarf an Ateliers sei groß, 50 bis 100 Menschen stünden auf der Warteliste. Schaut man auf die Mietpreise in Stuttgart und auch in anderen Städten ist das für die Künstler:innen ein einziger Segen.
Container als Ausweichateliers
2017 markiert den Anfang der Container City. Durch die Sanierung der Wagenhalle mussten Kunst- und Kulturschaffende vorläufig aus ihren Ateliers ausziehen. Als vorübergehende Lösung boten sich die Container an, mit dem Gedanken, es schön zu machen und ein interdisziplinäres Gesamtkunstwerk zu schaffen, erzählt Sylvia.
Nach dem Abschluss der Sanierungen 2020 zogen die meisten Atelierbesitzer:innen wieder zurück in die Wagenhallen. Manche sind interimsmäßig in die Container City nachgezogen, trotz des Wissens, dass dieser Ort nicht für immer bleibt. Bis jetzt konnte der Kunstverein das eine oder andere Wort einlegen und die Freifläche sichern, doch bis zuletzt dominierten die Pläne für die neue Maker-City. „Auch wenn klar war, dass hier ein neues Viertel entstehen wird, verliert Stuttgart dadurch einen einzigartigen Freiraum und Ort der Kunst und Kultur“, so die Künstlerin.
Und dieser Gedanke ist so traurig, dass sie ihn gar nicht an sich heranlassen kann, erzählt sie. Solche Freiflächen wie die Container City sind für Künstler:innen sehr wichtig: „Wir sehen das als essenziell für den Kunstverein, wie er arbeitet und wahrgenommen wird.“ Durch die Außenfläche konnten sich Kunstschaffende ausprobieren, ihre Arbeit weiterentwickeln und experimentieren. So wurden Festivals organisiert und Installationen, Skulpturen sowie architektonische Projekte realisiert.
Der Backstage-Bereich von Stuttgarts Kulturinstitutionen
„Dadurch, dass die Menschen dort arbeiten, leben, sich vernetzen und kooperativ an Projekten arbeiten, entsteht diese besondere Atmosphäre“, sagt Sylvia. „Die Menschen sind mit dem Ort und untereinander stark verbunden – ohne diese Außenfläche wäre das so nicht passiert. Freiräume wie diese sind in Städten extrem rar, vor allem in Stuttgart“, ergänzt sie.
Man könne spüren wie viel Engagement und Herzblut reinfließe, um einen angenehmen Ort für alle zu gestalten. Die dort entstehende Arbeit ragt weit über die Container hinaus. Im Prinzip ist der Ort „eine Werkstatt der ganzen Kulturinstitutionen, quasi Backstage.“ Das, was hier entwickelt wird, sieht man später in Stuttgarter Museen, Clubs, Theatern und Ausstellungen. „Ohne solche Funktionsräume, wäre das Leben in den präsentierenden Institutionen nicht nachhaltig“, so Sylvia.
Darum solle das geliebte und tolle Außengelände am 2. und 3. Juli noch einmal ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt und für alle Freunde, Bekannte und Interessierte ein letztes Mal geöffnet werden. „Mit Liebe feiern, bevor es zu Ende geht“, lautet die Devise und dazu hat das Programm einiges zu bieten.
Vielfältiges Programm von Samstag bis Sonntag
Egal ob groß oder klein, das Programm ist „bunt“ und spiegelt alle Sparten wider, die hier vertreten sind. Von Musik über Kunsthandwerk bis hin zu Performances ist alles dabei. Für die Kleinen (und natürlich auch die Großen) gibt’s verschiedene Kreativ-Workshops zum Handwerkeln und selbst ausprobieren sowie Kindertheater. Die Ateliers öffnen ihre Türen zum Reinschnuppern und unterschiedliche Inszenierungen laden zum Zuschauen ein.
Im Projektraum eröffnet die neue Ausstellung „orbit: Sabine Kuehnle & Narges Mohammadi“ und auf dem Marktplatz und der Wiese wird Musik bis spät in den Abend gespielt. Bei lässiger Atmosphäre, guter Musik und vollem Programm kann man hier den ganzen Tag verbringen.
Ein Funken Zuversicht bleibt
Trotz der Enttäuschung über das Ende, gibt es einen Funken Zuversicht: „Die Umgebung verändert sich und wir werden mitwachsen, mit dem Anspruch und der Frage, wie wir uns neu verorten und etwas Neues entstehen lassen können“, so Sylvia.

Was wird aus dem Kulturschutzgebiet bei den Wagenhallen?
Eigentlich war es schon ein Happy End für das Kunst- und Kulturprojekt Contain’t: Weil die Container City beim Kunstverein Wagenhalle, deren AkteurInnen seit der Kündigung des Mietvertrags nur noch geduldet werden, im Herbst abgebaut werden muss, hatte sich der Gemeinderat für das gemeinnützige Projekt stark gemacht.
Genau wie für die Waggons der benachbarten Ateliergemeinschaft Bauzug 3YG und den Stadtacker wurden für Contain’t Gelder bewilligt, um den Umzug zu finanzieren – alle drei sollen zur Internationalen Bauausstellung (IBA) 2027 schließlich Teil der Maker City sein, dem ersten fertiggestellten Areal des neuen Rosensteinviertels.
Bei Contain’t jubelte man über einen Einmalzuschuss von 604.000 Euro und eine Personalkostenförderung. Ein halbes Jahr später gibt es jedoch leider immer noch keinen Interimsstandort – und die Zeit drängt. „Wenn wir innerhalb der nächsten Wochen keine Fläche finden, müssen wir abbauen und einlagern“, sagt Marco Trotta von Contain’t frustriert.
18 Flächen wurden gemeinsam mit der Stadt geprüft, keine stellte sich als geeignet heraus. Selbst abgelehnt hat Contain’t nur drei Standorte, alle anderen scheiterten an der Verwaltung und anderen AkteurInnen – und nicht selten am Naturschutz. „Es ist paradox: Für den Stadtacker und die Waggons wurden Lösungen gefunden“, so Trotta. „Dabei suchen wir mit nur 2.000 Quadratmetern nach einer viel kleineren Fläche und sind dank unserer mobilen Räume anpassungsfähig.“
Der Stadtacker hat es bei seinem Umzug jedenfalls nicht weit: Die Gemeinschaftsgärten, die noch bis Mitte 2023 an ihrem Standort bleiben dürfen, rücken einfach näher an den benachbarten Kleingartenverein heran und beziehen in Zukunft einen Streifen am Wegrand. Zwar schrumpft die Fläche von aktuell rund 4.000 Quadratmetern dann beinahe um die Hälfte, trotzdem ist man beim Stadtacker glücklich: „Es gab in den letzten Jahren viele Momente, in denen wir nicht mehr daran geglaubt haben“, sagt Vereinsmitglied Beatrice Zilt. „Natürlich hätten wir uns mehr Platz gewünscht, aber dass unsere neue Fläche kein Interimsstandort sein wird und wir dort bleiben können – das ist großes Kino!“
Nicht nur hier soll der Stadtacker die Maker City prägen. „Der Plan ist, dass wir in das neue Viertel hineindiffundieren und an mehreren Stellen Grünflächen gestalten“, so Zilt.
Für die Waggons der Ateliergemeinschaft Bauzug 3YG, die von ihrem Gelände weichen müssen, steht der neue Standort schon länger fest. Der Umzug war eigentlich für dieses Frühjahr geplant, nun wird die knapp 500 Meter entfernte Fläche aber doch erst Ende Dezember frei. „Zum Glück hat uns die Bahn zugesichert, dass wir so lange bleiben können“, sagt Benjamin Köhl vom Bauzug.
Bleiben dürfen eventuell auch einige Container in der benachbarten Container City – das jedenfalls hofft Robin Bischoff vom Kunstverein Wagenhalle. Bis Ende Oktober soll eigentlich alles abgeräumt sein, damit im Januar die Artenschutzmaßnahmen beginnen können, die vor Baubeginn der Maker City nötig sind. „Wir sind aber mit der Stadt im Gespräch über einen Teilerhalt“, so Bischoff.
Konkret geht es um den Kunstboulevard, den die erste Containerreihe entlang der Wagenhalle bildet. AkteurInnen wie „Fahrräder für Afrika“ dürften dann zum Beispiel vor Ort bleiben. Das Ziel ist für den Vorsitzenden des Kunstvereins jedenfalls klar: „Wir wollen versuchen, die Atmosphäre der Container City zu erhalten.“
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Als Clemens Schneider ein großes Papier brauchte, das auf dem Markt nicht erhältlich war, erfand er selbst ein Verfahren, es herzustellen. Aus Dingen, die andere wegwerfen, schafft der Stuttgarter Künstler neue Werte. In seinen Händen verwandelt sich Lärm in Wohlklang.
Ein 52 Meter langer, drei Meter breiter, hochkant gestellter Bogen aus handgeschöpftem Papier windet sich um den Projektraum des Stuttgarter Kunstvereins Wagenhalle. Das Wort „handgeschöpft“ ist nicht ganz korrekt: Es gibt eine Vorstellung davon, wie das Papier aussieht. Doch ein Sieb dieser Größe in den Papierbrei zu tauchen: Das ist nicht gut möglich. Clemens Schneider hat sein eigenes Verfahren erfunden, als er vor sechs Jahren für eine Zeichnung ein großes Papier brauchte, das auf dem Markt nicht zu finden war.

Hadernpapier wäre das richtige Wort dafür. Im Schimpfwort „Haderlump“ – eigentlich eine Verdoppelung, denn Hadern und Lumpen sind dasselbe – ist das Wort noch präsent. So wurden verächtlich die Lumpensammler bezeichnet, die Habenichtse und Taugenichtse, schwäbisch auch „Lumpensäcke“ genannt, die als „fahrendes Volk“ Alt-Textilien für die Papierherstellung sammelten. In früheren Zeiten ein begehrter Rohstoff.
Das Papier im Ausstellungsraum changiert zwischen drei Farbtönen: Zwischen einem hellen und einem dunkleren Blau leuchten je nach Tageszeit, von hinten angestrahlt, helle Flecken hervor. Pulp Painting nennt sich das Verfahren, zu Deutsch auch Zellstoffmalerei: Von Hand nimmt der Künstler den verschiedenfarbigen Papierbrei, die Pulpe, aus der Bütte und verteilt sie auf das Sieb. Schneider hat Blue Jeans verarbeitet, daher kommen die Blautöne.
Ein feines Summen liegt in der Luft. Bei der Papierherstellung hat Schneider Kontaktmikrophone in den Papierbrei gelegt, die mit eingetrocknet sind und nun als Lautsprecher wirken, mit dem Papier als Membran. Das Signal kommt aus einem Apparat, der weiter vorne im Raum an der Wand hängt: der Noise Harp.
Und das kam so: In sein Atelier im Kellergeschoss eines Hinterhofgebäudes im Stuttgarter Leonhardsviertel drang eines Tages der unbeschreibliche Lärm einer Asphaltiermaschine. Schneider beschloss, den Krach in Musik zu verwandeln. Ein kleiner Lautsprecher bedröhnt vier Saiten und versetzt sie in harmonische Schwingungen, die nun in der Wagenhalle den Raum erfüllen. Natürlich lassen sich auch andere Klänge einspeisen, wie es das Duo Noise Bridge, Sopranstimme und Bassklarinette, in einem Konzert getan hat.
Etwas Besonderes ist auch das Ausstellungsplakat. Es besteht aus handgeschöpftem Papier. Eigentlich ist jedes einzelne ein Unikat, das für 35 Euro erworben werden kann. In leuchtend roter Farbe sind die Daten und Details zur Ausstellung angegeben. Doch das Wichtigste tritt erst im Dunkeln hervor, in phosphoreszierenden, grüngelben Großbuchstaben: „Clemens Schneider“, steht da. „The Magic Paper Room“.
Steil geht die Treppe hinab zu Schneiders Atelier im Hinterhof in der Leonhardstraße. Hoch sind die Räume, groß wie eine Vierzimmerwohnung, allerdings unbeheizt. Gleich am Eingang steht der Besucher einer Serie etwa drei mal drei Meter großer Zeichnungen von Abbruchhäusern gegenüber. Wände und Decken sind angeknabbert, rostige Bewehrungseisen stehen in die Luft, an denen dicke Betonbrocken hängen. „Meine Stuttgart-Bilder“, sagt Schneider: angefertigt mit Zeichenkohle auf selbst gefertigtem Papier nach Fotos von Abbruchhäusern aus dem Stadtgebiet.
Schneiders Atelier ist so etwas wie die Antithese dazu. Hier ist nahezu alles recycelt, nichts neu. Eine große Zahl schwarzer Wand-, Steh-, Scheren- und Schreibtischlampen im klassischen Bauhaus-Stil hat er im Osten Deutschlands erworben. Vieles stammt aus Abbruchhäusern: wie die Bar oder das Holz seiner großen Vorrichtung zur Herstellung der XXL-Papierformate, samt der alten Treppe, die auf einen Steg zwischen beiden Walzen hinauf führt.
Oder der Schrank, der an der Wand hängt, in dem viele Gläser mit Farbpulver stehen. Einige der Pigmente sind von weit her, er hat sie auf Reisen erworben. Die Schranktür war ein Fenster in einem Altbau, ein paar Häuser weiter in der Stuttgarter Jakobstraße. Der Bau soll marode gewesen sein. Die rumänischen Arbeiter, die Schneider beim Ausbau geholfen haben, hätten ihm gezeigt, welche Balken tatsächlich marode waren, erzählt Schneider. „Bei uns hätte man nur diese Balken ersetzt und den Rest erhalten“, sollen sie gesagt haben. Innen sei das Haus sehr schön gewesen. Aber es hatte nur wenig vermietbare Fläche.
Handwerklich ausgebildet als Steinbildhauer, hat Schneider an der Stuttgarter Kunstakademie Malerei studiert. Er weiß sich zu helfen. Ein alter Ventilator, bei dem der Motor nicht mehr läuft, kommt für ihn wie gerufen. Er schraubt das Gehäuse auf, sieht dass das Schmierfett verharzt ist, reinigt alles gründlich, fettet es neu, und schon läuft der Elektromotor wieder und der Künstler hat ein Gebläse, um das Papier zu trocknen.
Drei Schritte braucht es, um Lumpen in Papier zu verwandeln. Zuerst werden die Stoffreste in kleine Fetzen geschnitten. Dafür hat Schneider eine Art hölzerne Wanne gebaut, mit einer kleinen Kreissäge. Mit einem Schieber aus Holz – um sich nicht in die Finger zu sägen – schiebt er die Stoffreste im Kreis herum, immer wieder unter dem Sägeblatt durch. Die zweite Maschine heißt Holländer. Es gibt sie seit mehr als 300 Jahren. Schneider hat auch seinen Holländer selbst konstruiert. Eine Messerwalze zermalmt die im Wasser liegenden Stofffetzen zu einem Brei, der Pulpe, aus der dann das Papier geschöpft wird.
Und nun kommt Schneiders eigene Erfindung ins Spiel. In der Bütte trägt er den fertigen Brei in den hintersten Raum seines Ateliers, den der große Apparat fast vollständig ausfüllt. Ein stabiles Windschutznetz, wie es in der Landwirtschaft Verwendung findet, ist nach Aussage des Künstlers so ziemlich das Einzige in seinem Atelier, das er neu erworben hat. Darauf verteilt er von Hand die Pulpe, bis eine vielleicht 50 Zentimeter breite Fläche gänzlich von Faserbrei bedeckt ist.
Das Wasser läuft ab, und der Künstler zieht das Netz mit einer Kurbel ein Stück weiter. Nun klebt der Brei an dem senkrecht herabhängenden Netz, wird weiter oben von den Ventilatoren getrocknet und dann auf eine Walze gewickelt. Wenn er glattes Papier will, gibt es eine zweite Walze, über die er die noch feuchte Masse hängt und sie glatt streicht.
Kunst ist ein Prozess. Alles entwickelt sich ständig weiter. Vor ungefähr sechs Jahren hat Schneider mit Hilfe des Kulturamts sein jetziges Atelier gefunden. Sein altes an der Paulinenbrücke war für die Papierherstellung zu klein. Nicht nur die Maschinen hat er selbst gebaut. Er entwickelt immer wieder neue Ideen und Verfahren. So schneidet er, um räumliche Wirkungen zu erzielen wie in der Zentralperspektive der Renaissance, zwei verschiedenfarbige Papiere in trapezförmige Stücke, die er so zusammensetzt, dass sich ein nach hinten verjüngendes Schachbrettmuster ergibt.
Aus Lumpen, Abfall, entsteht kostbares Büttenpapier: So benannt nach dem Zuber, aus dem der Papierbrei geschöpft wird. Schneider gehört zu den wenigen Künstlern, die von ihrer Kunst leben können. Es passt alles zusammen: Der Ort seines Ateliers, im einzigen fast vollständig erhaltenen Stuttgarter Altstadtviertel, hinter der früheren Weinstube Widmer, der alten Künstlerkneipe; das Recycling, die Wiederverwertung alter Materialien und Geräte; die Thematik seiner Bilder, die sich der Wegwerfgesellschaft entgegensetzen.
Schneider hat nur eine Sorge: Dass auch im Leonhardsviertel ein Gentrifizierungsprozess einsetzen könnte, der die heutigen Nutzer vertreibt. Er meint nicht die Bordellbesitzer, sondern die Anwohner, die Kneipiers, alle, die wie er hier noch Räumlichkeiten gefunden haben, die sie sich leisten können.
In sein Atelier, unter der Erde im Hinterhof, dringt nicht nur der Lärm der Asphaltiermaschine, sondern auch sonst alles, was im Quartier rumort: Auch die Befürchtungen, die das Beteiligungsverfahren in der Leonhardsvorstadt zur Internationale Bauausstellung 2027 auslöst – ob sie berechtigt sind oder nicht, wird von der Stadt abhängen. Das Gebäude, in dem nun der Puffbesitzer sein Katz-und-Maus-Spiel treibt, hat die Stadt ihm selbst 2009 verkauft. Das Haus mit Schneiders Atelier hat die Stadt ebenfalls verkauft, an die Stuttgarter Wohnungs- und Städtebaugesellschaft SWSG. In diesem Jahr will die SWSG wieder einmal ihre Mieten erhöhen, im Gemeinderat ist das heftig umstritten. Auch dies ist ein Stoff, der Clemens Schneider beschäftigt. Der, wenn sich die Gelegenheit ergibt, auch in seine Bilder einfließt. Wie im Fall der Abbruchhäuser.
Wer den Künstler in seinem Atelier besucht, sollte ein wenig Zeit mitbringen. Sonst kann es sein, dass ihm einiges entgeht. Wenn alles gut geht, könnte es hier bald auch wieder Ausstellungen und Vernissagen geben. Stoff für neue Geschichten.
Eine Welle aus Papier umfängt den Besucher, schließt ihn fast ein, und singt. Der Stuttgarter Künstler Clemens Schneider hat den Projektraum des Kunstvereins Wagenhalle verwandelt – in den „Magic Room“ seiner Ausstellung.
Eine Welle aus Papier umfängt den Besucher, schließt ihn fast ein, und singt. Der Stuttgarter Künstler Clemens Schneider hat den Projektraum des Kunstvereins Wagenhalle verwandelt – in den „Magic Room“ seiner Ausstellung. Lediglich zwei Exponate umfasst diese Ausstellung – das eine von eher konventionellem Format, das andere monumental, aber hauchdünn.
Schneider, geboren 1974 in Stuttgart, beschäftigte sich ursprünglich nur mit Zeichnung und Malerei – bis er eine Zeichnung ausführen wollte im Format von drei auf vier Metern. Nirgendwo fand er Papier in diesem Format. Also baute Schneider in seinem Atelier in der Leonhardstraße eine Vorrichtung zum Papierschöpfen. Dabei griff er fast ausschließlich auf gebrauchte Materialien zurück. Seither wurde Recycling zu einem Thema in seiner Arbeit. Ein Thema, das nun, spielerisch verhandelt, in „The Magic Room“ seinen vorläufigen Höhepunkt findet.
Aus Weißwäsche und Jeans
Hier betreibt Clemens Schneider erstmals auch das Recycling von Klang, von „Noise“, vom Lärm des Straßenverkehrs in der Stadt. Schneider baute, wiederum vorwiegend aus Restmaterialien, sogenannte Noise-Harps: Stahlsaiten, versehen mit empfindlichen Tonabnehmern, die Lärm in ein hypnotisch schönes Summen verwandeln. In der großen Papierbahn, die Clemens Schneider in die Wagenhalle gehängt hat, drei auf 52 Meter groß, handgeschöpft in langwierigem Prozess, finden sich unzählige elektronische Bauelemente, die den eingefangenen Klang verwandelt freisetzen. Die Bahn selbst besteht aus sogenanntem Hadernpapier, hergestellt aus Kleidungsresten, denen sie ihre spezifische Färbung verdankt: Zehn Kilogramm Weißwäsche und zehn Kilogramm Jeans ergeben eine Textur, durch die sich blaue Schlieren ziehen, die der Künstler mit den Gesten freier Malerei durchsetzt hat.
Das kleinere der beiden Werke, die Schneider für die Schau schuf, ist auf die gleiche Weise entstanden, klingt jedoch anders. Ihm entströmt die abstrakte Musik des Stuttgarter Duos Noise-Bridge, das aus dem deutschen Klarinettisten Felix Behringer und der US-amerikanischen Sopranistin Christie Finn besteht: Aufnahmen von reißendem Papier und Finns Gesang geben diesem Bild eine lebendige, faszinierende Präsenz.
The Magic Paper Room. Bis 27. März im Projektraum des Kunstvereins Wagenhalle.
Was haben die mythische Seherin Kassandra, ein FBI-Agent und ein Anthropologe gemeinsam? Sie versuchen Menschen zu lesen – anhand ihrer nonverbalen Kommunikation. Die Choreografin Juliette Villemin hat alles recherchiert, was es zu diesem Thema gibt. Ihr Projekt: „Die Seherinnen – eine Tanzperformance“ geht unserer Körpersprache auf den Grund. Der Anlass: Corona – was sonst…? Die Pandemie verändert alles und damit natürlich auch unsere Kommunikation. Wahrscheinlich aber nicht bei jedem gleichermaßen.
Die gebürtige Spanierin Juliette Villemin hat 16 in jeder Hinsicht unterschiedliche Menschen in Stuttgart zu ihrer Lebenssituation befragt. Aus diesem Interview-Material – ohne Ton, allein aufgrund der Gestik!!!! – hat sie gemeinsam mit ihrem Team ein neues experimentelles Tanzvokabular erarbeitet. Mit dabei: Vier Tänzer und Tänzerinnen, eine bildende Künstlerin, eine Komponistin und ein Dramaturg.
Kunscht! war bei den Endproben im Projektraum der Wagenhallen dabei – und versucht einige Fragen zu klären: Machen uns Videokonferenzen zu Schauspieler*innen? Wie kommunizieren wir ohne Berührung, mit Maske und räumlicher Distanz? Und wie macht man aus nonverbalen Interviews ein abendfüllendes Tanztheaterstück? Premiere ist am 27.1.2022.
aus der Sendung vom Do., 27.1.2022 22:45 Uhr, Kunscht!, SWR Fernsehen
Thorsten Schütte im Gespräch mit Mathias Mauersberger

Über Namibias Popmusik zwischen 1950 und 1980 wissen wir hierzulande: nichts. Systematisch wurden schwarze Bands durch das Apartheidsregime an Auftritten gehindert. Eine Ausstellung in Stuttgart zeigt nun, dass trotzdem jede Menge Musik gemacht wurde.
Es muss eine Offenbarung gewesen sein: Sechs Jahre lang haben internationale Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen akribisch geforscht, Musikarchive durchstöbert und nach alten Aufnahmen namibischer Bands aus den 1950er- bis 1980er-Jahren gefahndet. Es sind Bands, die offiziell ihre Musik nie veröffentlichen durften.
Die Forscher wurden fündig, und die Ergebnisse sind jetzt in der Ausstellung „Stolen Moments. Namibian Music History Untold“ im Kunstverein Wagenhalle in Stuttgart zu sehen und zu hören.
Ihre Bühne waren die Townships
Die „untold history“ bezieht sich etwa auf Bands wie The Ugly Creatures oder Children of Pluto, die wegen der durch das südafrikanische Apartheid-Regime auch in Namibia verfügten Rassentrennung nicht öffentlich auftreten oder Alben produzieren durften.
Die Heimat dieser Bands waren die Townships. Die Ausstellung erzählt von Zensur und Unterdrückung, feiert aber auch die Wiederentdeckung, wie der Filmemacher Thorsten Schütte, künstlerischer Leiter der Schau, sagt.
„Die Musik wurde nie kommerziell verwertet, sondern nur auf Tonband oder auch Vinyl gepresst und nur für den Eigengebrauch“, sagt Schütte. „Die Musiker haben dafür auch nie Geld gesehen, geschweige denn Tantiemen.“
Der namibische Rundfunk sei vom südafrikanischen Apartheidsregime kontrolliert worden – schon mit Worten wie „Freiheit“ in Songtexten hätten Musikerinnen und Musiker sich verdächtig gemacht.
Vor ein paar Jahren wurde Schütte im namibischen Rundfunk zu seinem neuen Film interviewt. „Ich hörte im Nachbarstudio Musik, die mir sehr gefiel“, erinnert er sich.
Seine Neugier war geweckt. „Im Archiv, zu dem man mir Zugang gewährte, stieß ich dann auf jede Menge Schallplatten und Tonbänder, die allerdings nur sehr spärlich beschriftet waren, weiße Hüllen, keine Albumcover.“
Ein Musiker als Busfahrer
Einer der Künstler war Ben Molazi, der zu der Zeit als Busfahrer seinen Lebensunterhalt verdiente. Schütte nahm Kontakt zu ihm auf und ließ sich seine Geschichte erzählen.

Ben Molazi hat die Ausstellung nicht mehr erlebt, er starb kurz vor der Eröffnung. Doch im Rahmen der Arbeit für die Schau sei es gelungen, seine Musik auf einem Album zu veröffentlichen, berichtet Schütte.
Ab dem kommenden Jahr soll die Ausstellung dauerhaft in Namibia gezeigt werden. „Damit ist sie dann erstmals auch dem namibischen Publikum im großen Stil zugänglich. Und wir glauben, dass das dann noch mal einen ganz anderen Schub bekommt in der namibischen Bevölkerung. Und hoffen, weitere Tonträger veröffentlichen zu können.“
Die Ausstellung ist noch bis zum 21. November 2021 im Projektraum Kunstverein Wagenhalle in Stuttgart zu sehen.
Die Ausstellung „Stolen Moments. Namibian Music History Untold“ in Stuttgart rückt die unterdrückten Facetten einer Musik ins Licht, die sich gegen Kolonialismus und Apartheid behaupten musste
„Bitter and sweet“ sei die Ausstellung „Stolen Moments. Namibian Music History Untold“, sagte der namibische Botschafter Martin Andjaba in seiner Rede bei der Vernissage im Stuttgarter Kunstverein Wagenhalle am Montag. Sie zeige die unterdrückten Facetten einer Musikkultur, bringe aber gleichzeitig ins Bewusstsein, dass die Menschen trotz Apartheidstaat Momente der Selbstbehauptung erleben konnten, zum Feiern zusammenkamen, zum Musizieren und zum Tanzen. Die Ausstellung rette, meint Andjaba außerdem, diejenigen vor dem Vergessen, die unter den Bedingungen der Apartheid eine namibische Popkultur geformt haben.
Die Geschichte Namibias ist durchzogen von solchen „gestohlenen Momenten“, etwa einer eigenen musikalischen Sprache. Schon die deutschen Kolonisatoren, die ab 1884 „Deutsch-Südwestafrika“ besiedelten, hatten wenig Interesse an der Kultur der unterschiedlichen Volksgruppen des Landes; mit dem Völkermord an den Herero und den Nama ab 1904 wurden auch deren kulturellen Traditionen zerschlagen.
Stattdessen brachten die deutschen Siedler – etwa 12.000 waren es bei einer Gesamtbevölkerung von 200.000 im Jahr 1913 – ihre eigenen Kulturformen mit ins Land, von Schwarzwälder Kirschtorte bis zu Blasmusik. Mit dem Ende der deutschen Kolonie 1915 endete jedoch nicht die Zeit der Fremdbestimmung: 1919 erteilte der Völkerbund an Südafrika ein Mandat zur Verwaltung des Landes, woraufhin die dortigen Apartheidgesetze nach und nach auch im heutigen Namibia umgesetzt wurden.
Insbesondere der „Population Registration Act“ von 1950 organisierte im Alltag die räumliche Trennung zwischen Weißen und den als „Black“ kategorisierten Menschen, die in sogenannten Homelands angesiedelt wurden. Hier setzt die Ausstellung zeitlich an, die von der „Stolen Moments Research Group“ um die namibische Kuratorin Aino Moongo und den Filmemacher Thorsten Schütte als eine „erinnerungsarchäologische Spurensuche“ konzipiert worden ist. Sie geht dabei weniger didaktisch vor, sondern stellt vielmehr Material zur eigenen Interpretation bereit: Bildmaterial von Fotos über Zeitungsausschnitte bis zur Kunst auf Schallplattencovern sowie Hunderte digitalisierte Songs an Hörstationen.
„Stolen Moments“ fragt nach dem Verhältnis von Politik und Popkultur, nach der Kultur als Speicher gesellschaftlicher Entwicklungen. Denn in den Homelands entwickelte sich vor der Folie der Traditionen von Nama, Herero, San oder Damara eine eigene musikalische Kultur, angereichet durch Folk- und Blueselemente, Bebop und Jazz. Aus regelmäßigen Tanzabenden und Konzerten in den 1950ern entstand in den Augen der Machthaber ein Widerstandspotenzial, das sie dazu veranlasste, die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen wiederum in separaten Gebieten anzusiedeln. Doch trotz aller Zensurmaßnahmen, gewaltsamen Umsiedlungen und Verbote konnte nicht verhindert werden, dass sich die Popkultur Wege suchte, weiter die Menschen zu erreichen.
Oftmals auch ungewollt vorbereitet wurde dies durch die weiße Gesellschaft, die schwarze Musiker als Hotelbands, für Hochzeiten und andere Feste engagierte und ihnen dabei westliche Popkultur nahebrachte: „Ich erinnere mich, dass wir die Beatles gespielt haben, ‚With a Little Help From My Friends‘ und ‚Here Comes the Sun‘“, erzählt Tony Figueira in einem 2015 für die Ausstellung geführten Interview. Baby Doeseb, Drummer der Ugly Creatures, ergänzt: „Wir wurden oft auch von Afrikaans sprechenden Weißen gebucht. Sie ließen uns in Hotels auftreten und gaben uns im Voraus ihre Lieblingsplatten, damit wir ihre Musik lernen konnten.“
Auch stellte das Regime Strukturen zur Verfügung, die sich die Schwarzen angeeignet haben: Ende der 1960er wurden Radioprogramme lanciert, die in unterschiedlichen Landessprachen der Schwarzen Bevölkerung das Gefühl von Beteiligung geben sollten, aber vornehmlich das Ziel hatten, sie ruhigzustellen. Ruhig waren sie allerdings keineswegs: Im Archiv der staatlichen Radioanstalt fanden die Kuratoren ungezählte Stunden Musik, die seit den Sechzigern vornehmlich auf Tonbändern aufgenommen worden war. Das musikalische Spektrum reicht von traditionellen Melodien, die mit Rock, Funk und Pop fusioniert wurden, über Singer/Songwriter-Folk bis hin zu krautigen Drums oder souligen Balladen.
Children of Pluto nannten sie sich, an den Afrofuturismus-Zeitgeist eines Sun Ra anschließend, und The Dead Wood oder Rocking Kwela Boys. The Ugly Creatures, mit ihrem funkigen Rock die bekannteste Band Namibias in den 1970ern, singen in ihrem Song „Exit for the Artist exists“: „Wie ich mich als Künstler ausdrücke, ist nur ein kleiner Teil dessen, wie ich mich fühle.“ Die Musik ist das eine, daneben steht die reale Erfahrung im Alltag, ein Mensch zweiter Klasse zu sein, nicht von der Musik leben zu können und der Willkür des Staats ausgesetzt zu sein.
Die Ausstellung macht diese Leerstellen deutlich: Musiker, die keine sein durften, die ins Exil gingen oder die Instrumente an den Nagel hängten; Tonbandaufnahmen, die über Jahrzehnte in Archiven schlummerten, und von den Machthabern zerkratzte Schallplatten, weil diese Momente der Selbstbehauptung ihnen zu heikel geworden waren.
„Stolen Moments“ bringt diese Leerstellen zurück ins Bewusstsein, ergänzt um das, was war, was gewesen sein könnte, und um das, was verloren ist: Musik aus dem Radioarchiv wurde digitalisiert und zugänglich gemacht, Künstler der Gegenwart haben Plattencover für die nie erschienenen Alben entworfen, und Fotografen haben sich auf die Suche nach den ehemaligen Orten der Subkultur begeben. Sie haben die Gemeindesäle, Gemeindezentren und Bars fotografiert, die heute verlassen und nur noch stumme Zeugen einer ehemals lebendigen Kultur sind.
Aus den vielen Stimmen und Songs, die in der Ausstellung zusammengetragen wurden, formt sich das Bild einer verlorenen Welt, das gleichzeitig deutlich macht, welche Kraft in Popkultur stecken kann: die Utopie einer besseren Welt, einer Welt, in der Blut und Boden, Hautfarbe und Zuschreibung keine Rolle mehr spielen. Die Ausstellung macht sich von Stuttgart aus übrigens auf den Weg zurück nach Namibia; die gestohlenen Momente kehren heim.