31. Januar 2020, G+L Magazin für Landschaftsarchitektur

Hundert Jahre nach der Eröffnung der Weißenhofsiedlung verspricht die IBA Stuttgart 2027 wegweisende Innovationen. Im März 2019 nahm die Internationale Bauausstellung die ersten Projekte auf. Darunter das Wagenhallen-Quartier, das seit vielen Jahren durch die Stuttgarter Kreativszene geprägt wird. Im Rahmen der IBA wollen Künstler und Stadt das Areal um die Wagenhalle zum Experimentierfeld für produktiv-kreative Pilotprojekte und Konzepte zur zukunftsfähigen Stadt entwickeln. Doch es entstehen bereits jetzt erste Begehrlichkeiten, die den kreativen Ort gefährden.

Die IBA 2027 für die Stadt und Region Stuttgart hat es gut. Sie kann sich in den Windschatten der Weißenhofsiedlung stellen und darauf abzielen, wie vor hundert Jahren Architekturgeschichte schreiben zu wollen. Damals provozierten die Häuser am Stadtrand die Diskussion um das Leben,Wohnen und Arbeiten im Industriezeitalter. 2027 soll die IBA Ähnliches leisten. Sie soll „radikal neue Ideen für die Stadtregion im Zeitalter von Digitalisierung, Klimawandel und Globalisierung“ präsentieren, heißt es in deren Memorandum. Obwohl die Bauausstellung erst in den Anfängen ihres zehnjährigen Aktionszeitraumes ist, ist die Debatte um die zukunftsweisende Entwicklung der Stadt schon in vollem Gange.

Zu einem der bisher angemeldeten IBA Projekte gehört das sogenannte C1 Wagenhallen-Quartier. Die Bezeichnung C1 stammt aus der Rahmenplanung für Stuttgart 21. Während die durch den Bahnumbau freiwerdenden Gleisflächen in der Innenstadt als Baufelder A bezeichnet und derzeit entwickelt werden, warten die B- und C-Flächen noch einige Jahre auf ihre Neunutzung. Das als C1 bezeichnete Areal, nur drei Kilometer nördlich der Innenstadt, aufgespannt zwischen Pragfriedhof und altem Nordbahnhof, wartet aber nicht als Brache auf seinen Umbau. Vielmehr lockte der alte Lokschuppen auf dem Gelände schon früh Künstler an. Auf deren Initiative kaufte die Stadt 2003 die sogenannten Wagenhallen und vermietete darin Ateliers und Werkstätten zur Zwischennutzung.

VOM KUNSTORT ZUM „KULTURSCHUTZGEBIET WAGENHALLEN“

Lange bevor von einer IBA in Stuttgart die Rede war, machten Kreative verschiedener Sparten die Wagenhallen im Stuttgarter Norden zu einer einzigartigen Produktionsstätte für Malerei, Fotografie, Architektur, Baubotanik, Theater und vielem mehr. Mit zwei bis drei großen Kunstprojekten pro Jahr und im regen Austausch mit anderen kreativen Initiativen der Stadt wurden die Wagenhallen zu einem stadtbekannten Kunstort. Schließlich ist es dem Engagement der Künstler zu verdanken, dass die Hallen nicht abgerissen, sondern denkmalgerecht saniert wurden. Denn als brandschutztechnische Gründe die Nutzung als Ateliers bedrohten, sicherte die Stadt dem mittlerweile gegründeten Kunstverein Wagenhalle die dauerhafte Weiternutzung zu. Für die Bauzeit bot die Stadt den Kunstschaffenden eine alternative Nutzungsfläche unweit der Hallen an. Auch die Gestaltung dieses Interimsquartiers wurde zum ausgezeichneten Projekt: Die Ateliers, Werkstätten, Proberäume und Büros des Kunstvereins wanderten in etwa hundert Container, die auf der Fläche neben dem Lokschuppen aufgestellt wurden. Diese provisorisch gedachte Container City ist durch zahlreiche Ausstellungen, Vorträge, Symposien und Workshops zum zentralen Treffpunkt der kreativen Szene geworden. Die Mitglieder des Kunstvereins sprechen mittlerweile sogar vom „Kulturschutzgebiet Wagenhallen“. Sie sehen, dass von diesem Ort mit seinen verschiedenen Akteuren und vielschichtigen Projekten wichtige Impulse für die Stadtentwicklung ausgehen. Das sehen nicht nur die Künstler so. Das Kulturschutzgebiet wurde 2018 im Rahmen des Deutschen Städtebaupreises mit einer Belobigung ausgezeichnet. Darin heißt es, dass „diese Form ephemerer Stadtentwicklung […] zur Schnittstelle zwischen Ateliergemeinschaft und Stadtgesellschaft“ geworden ist. Das Kulturschutzgebiet ist damit zu einem „Impulsgeber und programmatischen Baustein für das zukünftige Quartier“ geworden. Und mit diesem Quartier ist nicht nur die von ehemaliger Eisenbahnnutzung geprägte alte Umgebung der Wagenhallen gemeint. Das Kulturschutzgebiet soll vielmehr eine wichtige Rolle im neu zu gestaltenden Rosenstein-Quartier spielen.

KULTURSCHUTZGEBIET WIRD KREATIVER HOTSPOT IM ROSENSTEIN-QUARTIER

Als Rosenstein-Quartier werden etwa 85 Hektar Entwicklungsfläche nördlich der Stuttgarter Innenstadt bezeichnet, die durch die Umstrukturierungen des Bahnverkehrs frei werden (G+L berichtete zum Beteiligungsprojekt Rosenstein in der Ausgabe02/2017). Hier sieht die Stadt Stuttgart die Chance, eine neue Städtebaukultur zu etablieren. Es sollen städtebauliche Antworten auf aktuelle Fragestellungen zu Flächenknappheit, Mobilität, Klimaanpassung, Wachstumsdruck und Bezahlbarkeit von Wohnraum gefunden werden. Die IBA 2027 ist dabei hilfreicher Rahmen, um diese Zukunftsthemen zu diskutieren. Erste Lösungsansätze, die die Gewinner des kürzlich prämierten städtebaulichen Wettbewerbs erarbeitet haben, strotzen nicht vor Innovation. Laut Preisgericht spiegelt der Siegerentwurf den klassischen Städtebau einer dichten europäischen Stadt wider. Ob dieser dazu taugt, wirklich zukunftsweisende Stadtentwicklung zu entwickeln, bleibt abzuwarten. Da voraussichtlich noch viele Jahre ins Land gehen werden, bis die Flächen des neuen Rosenstein-Quartiers dann wirklich für die Umnutzung verfügbar sind, kann noch viel diskutiert werden. Ein Areal innerhalb des Wettbewerbsgebiets setzt sich von der „klassischen europäischen Stadt“ ab: die „Maker City“. Als Kreativquartier, als Experimentierfeld oder Stadtlabor wird das Areal rund um die Wagenhallen von den Entwurfsverfassern des Wettbewerbs beschrieben. Es soll zum Pionierfeld in Stuttgart werden, was den Vorsitzenden des Kunstverein Wagenhalle e.V. erfreut. Robin Bischoff war Mitglied der Jury und sieht ein wichtiges Zeichen darin, dass das Kulturschutzgebiet als besonderes Stück Stadt wahrgenommen wird. Hier darf schon jetzt und soll in Zukunft weiter experimentiert werden, hier werden Innovationen erprobt, verworfen und wieder neu errichtet. Schon jetzt ist das Areal rund um die Wagenhallen ein dynamischer Ort, eine regelrechte Keimzelle für Innovationen. Deshalb ist es wohl auch in den Reihen der IBA-Projekte aufgenommen worden. Aber in der Stadt sieht das nicht jeder so.

PLÄNE FÜR INTERIMSOPER GEFÄHRDEN KULTURSCHUTZGEBIET

Mit der zunehmenden Aufmerksamkeit, die das Wagenhallen-Quartier erfährt, wachsen Begehrlichkeiten. Was früher ein Unort war, soll zum Ort der Hochkultur werden. Plötzlich taucht das Kulturschutzgebiet Wagenhallen in den Diskussionen um die Zukunft des Stuttgarter Opernhauses auf. Ob Sanierung des Altbaus mit einer Interimsspielstätte oder kompletter Neubau, die Diskussion scheint verfahren. Und offen wird sie auch nicht immer geführt. Denn viele Kunstschaffende erfuhren aus der Zeitung, dass ihr Areal aktuell als ein möglicher Standort für einen Interimsbau der Oper in Betracht gezogen wird. Der würde einen großen Teil des C1-Areals in Beschlag nehmen und dem Kunstverein viel Freifläche nehmen. Vor allem aber würde er das benachbarte urbane Gartenprojekt gefährden.

Neben den hundert Künstlern sind mittlerweile fast hundert urbane Gärtner im Kulturschutzgebiet aktiv, die dort nicht nur Obst und Gemüse anbauen. Wie auch in anderen Städten, leistet auch der Gemeinschaftsgarten des Vereins Stadtacker wichtige Beiträge zu Stadtentwicklung. Er ist Treff- und Kommunikationspunkt, Ort der Bildung, Forschung und Integration, der Ökologie und Demokratie. Als solche schätzt der Gemeinderat der Stadt Stuttgart eigentlich seine urbanen Gärten. Aber diese Unterstützung scheint zu wanken, wenn Hochkultur auf die Bühne kommt. Für den Bau einer Interimsoper würde der Garten weichen müssen. Damit würden nicht nur mittlerweile tief verwurzelte Pflanzen, neu angesiedelte Tiere und engagierte Gärtner verdrängt. Vor allem würde ein innovativer, dynamischer Projektort verschwinden, der in Synergie mit dem benachbarten Kunstverein wichtige Beiträge im Diskurs um die Zukunft der urbanen Gesellschaft leistet. Der Blick auf das C1-Wagenhallen-Quartier offenbart eine wechselvolle Geschichte. In über 15 Jahren hat sich der Standort von einem kaum beachteten, alten Bahnareal zu einem begehrten und zukunftsweisenden Experimentierfeld entwickelt. Nun gilt es, an das bereits vorhandene Potenzial anzuknüpfen und die bereits verwurzelten Kreativen und Querdenker zu respektieren und wertzuschätzen. Denn nur mit denen kann ein wahres Zukunftslabor entstehen. Dass das in die herkömmlichen Schubladen von Bauleitplanung und Wirtschaftsförderung nicht passt, ist klar. Vielmehr müssen Rahmenbedingungen und Freiräume für Experimente geschaffen werden, in denen auch Wildwuchs und Ungeordnetes erlaubt sind. Ob die IBA und die Stadt das ertragen können, bleibt abzuwarten. Hoffentlich, denn mit der perfekten Ästhetik der Weißenhofsiedlung wird dieser Experimentierraum wenig gemein haben. Aber Stuttgart würde er guttun.

FAKTEN

Genau 100 Jahre nachdem die europäische Architekten-Avantgarde in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung ihr damals radikales „Wohnprogramm für den modernen Großstadtmenschen“ vorstellte, soll die Internationale Bauausstellung 2027 StadtRegion Stuttgart (IBA’27) ganz neue Antworten finden auf die Frage: Wie leben, wohnen, arbeiten wir im digitalen und globalen Zeitalter? Gesteuert wird die IBA von der IBA 2027 StadtRegion Stuttgart GmbH. Gesellschafter sind die Landeshauptstadt Stuttgart, der Verband Region Stuttgart und die Wirtschaftsförderung Region Stuttgart GmbH, die Architektenkammer Baden-Württemberg sowie die Universität Stuttgart.