19. Juni 2019 , KONTEXT:Wochenzeitung
Anna Ingerfurth hat etwas getan, was sich für seriöse Künstler eigentlich verbietet: Sie beschäftigt sich mit Stuttgarter Stadtbezirken. Heimatkunst? Mitnichten. In den Bildern steckt viel Ironie und hintergründiger Humor.
„25.5.2014-26.5.2019“: Der Titel bezeichnet die gerade zu Ende gegangene Wahlperiode des Stuttgarter Gemeinderats. „Eine Darstellung des Rathauses in seiner regierenden Funktion“, schreibt Anna Ingerfurth zu ihrem kleinen Acrylgemälde. Aber was ist zu sehen? Ein Labyrinth. Darum herum, bis über die abgerundeten Kanten der 2,5 Zentimeter dicken Faserplatte hinweg, führt eine Spur von 60 Punkten. „Die Pünktchen symbolisieren die Sitze der jeweiligen Fraktion“, erläutert die Künstlerin, „wobei die Farben nicht den üblich angewandten entsprechen.“ Man kann jetzt nachzählen: 17 schwarze für die CDU, 14 grüne – aber neun rote sind nicht dabei, die SPD ist irgendwie ausgefärbt.
Drei Frauenfiguren scheinen der Spur der Punkte zu folgen oder ihren Weg durch das Labyrinth zu suchen. Aber sind sie wirklich auf dem Weg irgendwo hin oder sind es nur unbewegliche Mannequins, ausgeschnittene Anziehpuppen von hinten? Das Labyrinth verjüngt sich, die Schatten der Figuren entsprechen der Lichtführung. Und doch bilden Boden und Mauer-Oberkanten eine zusammenhängende, einheitliche Fläche: ein Vexierspiel. Ingerfurths Bilder sehen manchmal aus wie Tapetenmuster der siebziger Jahre. Die Farben sind hell und bunt. Ihre Figuren tragen enge Röcke und hohe Absätze, die Männer Anzug mit weißem Hemd. Es sieht alles recht bieder aus, wie aus der Nachkriegszeit. Doch überall lauern Abgründe. Das Tapetenmuster hat Löcher, darin stecken Figuren. Die Fläche klappt plötzlich weg. Bei Ingerfurth muss man auf solche Überraschungen gefasst sein.
Collagen mit subtilen Spitzen
Jetzt hat sie eines Themas angenommen, das normalerweise für Künstler eine No-go-Area darstellt. Das Heimatliche, die 23 Stuttgarter Stadtbezirke: ist das nicht eher etwas für Sonntagsmaler? Das Gegenteil von anspruchsvoller, akademischer Kunst also, die etwas auf sich hält? Aber Ingerfurth hat keine Berührungsängste. Sie nähert sich dem Thema, indem sie ganz nüchtern die Umrisse des jeweiligen Bezirks aus dem Stadtplan übernimmt und mit etwas füllt, was ihn charakterisiert: rote Kirschen für Hedelfingen, denn dort wurde 1850 die Hedelfinger Riesenkirsche entdeckt; biergelbe Farbe und das Robert-Leicht-Logo für Vaihingen, die Heimat des Schwaben Bräu.
Eine Serie von Collagen nimmt die Stadt insgesamt in den Blick. Sie erinnern nicht nur an vergangene Zeiten, sämtliches Bildmaterial stammt aus Zeitschriften der sechziger und siebziger Jahre. Zu den wiederkehrenden Motiven gehören das Rathaus, der Fernsehturm, die Schulstraße – Deutschlands erste Fußgängerzone – und der Österreichische Platz, Sinnbild der autogerechten Stadt: alles charakteristische Stuttgart-Motive. Aber sie setzt diese neu zusammen: das Rathaus steht plötzlich am vielbefahrenen Cityring, gewissermaßen als Strafe für den Gemeinderat, der die Stadtautobahn so gewollt hat. Die Stadtbewohner dürfen dagegen im Freibad planschen. Leise Kritik oder nur Verwunderung über die Dinge, die nicht zusammenpassen?
Die Stuttgart-Bilder von Anna Ingerfurth sind noch bis 13. Juli in der Galerie Valentien, Gellertstraße 6 ausgestellt; die Galerie ist dienstags bis freitags von 13 bis 18 Uhr und samstags von 10 bis 14 Uhr geöffnet