17. Juli 2019 , KONTEXT:Wochenzeitung
Beim urbanen Gärtnern gedeihen nicht nur Kürbis und Petersilie, sondern auch Gemeinschaftssinn, Kultur und Bildung, verkündet die Stadt Stuttgart auf ihrer Website. Warum stehen dann die wichtigsten Urban-Gardening-Projekte vor einer ungewissen Zukunft?
Die Kohlrabi in den Kästen wachsen prächtig, auch der Mangold. Die Tomaten sind noch grün, die Paprika und die Kürbisse noch nicht reif. Minze, Schnittlauch und weitere Kräuter gibt es reichlich. Ansonsten sieht das Inselgrün Anfang Juli bei brütender Hitze ein wenig trocken und verstaubt aus. Kein Wunder, rundherum ist Ödland, seit vielen Jahren. Als sich Stuttgart 2002 um die Olympischen Spiele bewarb, war der frühere Cannstatter Güterbahnhof für das olympische Dorf vorgesehen. Der damalige Oberbürgermeister Wolfgang Schuster kam zu spät zur Präsentation mit verknackstem Daumen, der Traum war ausgeträumt, nun sollte hier das Wohngebiet Neckarpark entstehen. Basierend auf 17 Jahre alten Gemeinderatsbeschlüssen, die nun endlich umgesetzt werden sollen. Und deshalb soll das Inselgrün hier weg.
Das Inselgrün ist das Herzstück der 2012 von Joachim Petzold ins Leben gerufenen Kulturinsel: eines der wichtigsten Urban-Gardening-Projekte in Stuttgart. Wichtig ist es nicht in erster Linie wegen des Gemüses, wichtig ist es als Freiraum, als soziales Projekt. Das sieht man: es gibt eine kleine Bühne, davor stehen Holzbänke und Tische und eine Tribüne. Einmal im Monat, das nächste Mal am 20. Juli, findet hier das Jangala statt – entspannte elektronische Musik zum Tanzen von 15 bis 22 Uhr. „Gemeinsam“, „Schwingung“, „Harmonie“ steht auf drei Schildern. Zwar hat der Gemeinderat sich zu dem Urban-Gardening-Projekt bekannt. Aber da wo es ist, sollen die Baufahrzeuge für das Wohngebiet anrollen. Die Zufahrt zu verlegen, scheint der Stadt undenkbar. Ein Beschluss von vor 17 Jahren kann nicht noch einmal abgewandelt werden. Aber wo soll das Gartenprojekt hin? Hier ist es organisch gewachsen, direkt verbunden mit der Kulturinsel, mit den bunten Aktivitäten, die dort stattfinden. Jeder kann kommen und gehen wie er oder sie will, rund um die Uhr. Man kann vor oder nach den Veranstaltungen noch ein wenig Unkraut jäten, es gibt Wasser, ein paar Bäume und Sträucher schützen vor Sonne, Wind und Staub. Undenkbar, das irgendwo nach da draußen zu verlagern, wo es im Moment aussieht wie in der Trockensavanne.
Wozu etwas aufbauen, das weg soll?
„Respect the Location!“ steht auf einem Schild, „hier feiert ihr in einem wundervollen Nutzgarten.“ Das klappt ziemlich gut, Vandalismus hat es auf dem Inselgrün so gut wie noch nie gegeben. Es muss ziemlich viel gegossen werden. Jeden zweiten Sonntag ist Helfertreff, erzählt Hannah Becker, die in Freiburg Kulturanthropologie studiert und seit März auf der Kulturinsel ein Praktikum absolviert. Eigentlich hätten es nur sechs Wochen sein sollen, jetzt bleibt sie bis Ende Juli. Zehn aktive und regelmäßige Helfer sind wenig, meint sie. Wenn das Haus der Familie und die Caritas nicht einzelne Beete in Obhut genommen hätten, würde es noch trauriger aussehen. Immerhin kann sie von der Kulturinsel aus immer wieder mal nach dem Rechten sehen. Aber dass das Inselgrün nur noch diesen Sommer hierbleiben soll, bremst das Engagement. Wozu etwas aufbauen, das weg soll?
Hannah Becker meint, es könnte besser organisiert sein: wenn die Verantwortlichkeiten klarer geregelt wären. Aber das Inselgrün ist vor allem ein soziales Projekt. Schulklassen, demente Senioren, Jugendliche auf der Suche nach einer Lebensperspektive, die Daimler-IT-Tochter, die hier ihren Social Day veranstaltet, Anwohner aus dem benachbarten Veielbrunnenviertel, Migranten und Flüchtlinge: beim Urban Gardening kommen alle zusammen. Es gibt nichts, was besser geeignet wäre, den sozialen Zusammenhalt zu stärken. Und es gibt im großen und bunten Stadtteil Cannstatt kein zweites solches Projekt. Seit April ist das Inselgrün Teil des Forschungsprojekts GartenLeistungen. Nach dem Prinzip eines Reallabors sollen praktische Versuche mit wissenschaftlicher Begleitung durchgeführt werden. Unter Federführung des Berliner Instituts für ökologische Wirtschaftsforschung suchen zwei Universitäten, die Stadt Stuttgart und die Umlandentwicklungsgesellschaft Terra Urbana nach dem vielfachen Nutzen des Urban Gardening. Ihre Versuchsfelder sind das „Himmelbeet“ in Berlin-Wedding und das Inselgrün. Nur: welche „vieldimensionalen Leistungen“ kann ein Projekt erbringen, das vor einer unklaren Perspektive steht?
Ein Migrant hat die größten Himbeeren – für alle
Auch der Stadtacker ist ein soziales Projekt. Doch hier stehen nicht Veranstaltungen und soziale Programme, hier steht das Gärtnern selbst im Mittelpunkt. Etwa 100 Personen ackern auf dem ungefähr 4000 Quadratmeter großen Gelände zwischen dem Containerdorf der Wagenhallen-Künstler, den Containern, in denen die Stuttgart-21-Bauarbeiter wohnen, und dem Pragfriedhof. Sie kommen ungefähr zur Hälfte aus der näheren Umgebung, die anderen von weiter weg und arbeiten zum Teil auf eigenen Parzellen, zum Teil aber auch gemeinsam. Ein Migrant hat die größten Himbeeren. Er bietet allen davon an. Ein kleines Paradies. Elisa Bienzle hält ein wenig die Fäden in der Hand. Man kann nicht sagen, dass sie den Stadtacker leitet, es gibt keine Chefin, es ist ein selbst organisiertes, sich selbst organisierendes Projekt. Aber Selbstorganisation heißt nicht, dass alles einfach von selber passiert, jemand muss es in die Hand nehmen. „Wie kann man das Engagement fördern und steigern“, fragt Bienzle. Immer am ersten Sonntag im Monat um 15 Uhr gibt es ein Nutzertreffen. Da bringen Viele ihre Ideen ein. Bienzle fragt dann gleich nach: Was braucht man dazu? Wer ist bereit, die Verantwortung zu übernehmen?
Stephan Gerdes zum Beispiel kommt von außerhalb Stuttgarts. Auf den Stadtacker stieß er, weil er einmal ein paar Pflanzen übrig hatte, die er weitergeben wollte. Doch dann hat es ihm so gut gefallen, dass er immer wieder kam. Von ihm stammt die Idee mit der Kräuterspirale. Von Steinen begrenzt, windet sich nun ein kleiner Hügel mit Küchenkräutern bergan: unten die, die es gern feucht mögen wie Brunnenkresse; dann fünf oder sechs Minzsorten; oben Mittelmeer-Pflanzen wie Thymian oder Lavendel. Sogar ein Ingwer ist dabei, die Wurzel hatte ausgeschlagen, da hat Gerdes sie einfach mit eingesetzt. Jeden Tag passiert etwas. Einer will Weinstöcke holen, für einen Torbogen. Bienzle sagt, er soll sich die Rechnung geben lassen, ein bisschen Geld sei da. Am einen Ende gibt es ein Feuchtbiotop, am anderen 13 Bienenstöcke. Es gibt aber auch Wildbienen. Kürzlich war ein Biologe da, erzählt Gerdes, der im Auftrag der Stadt eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchführt. Er war überrascht: So viele Wildbienen habe er in Stuttgart noch nirgendwo gesehen. Die Umweltverträglichkeitsprüfung wird durchgeführt, weil die Absicht besteht, das Operninterim an die Stelle des Stadtackers zu setzen. Zwar hat der Stadtacker schon viele Preise erhalten: den Umweltpreis der Stadt, zwei vom Verschönerungsverein, einen vom Land und zuletzt als offizielles Projekt der UN-Dekade Biologische Vielfalt. Und das Wagenhallenquartier soll ein Projekt der Internationalen Bauausstellung (IBA) 2027 werden, einschließlich des Stadtackers, auch nach Auskunft der Stadt. Aber ein Opern-Interim braucht Platz. Viel Platz. Die Stuttgarter Oper hat nach eigener Auskunft 1364 Mitarbeiter und 1404 Zuschauerplätze. Bisher haben die Staatstheater nicht erkennen lassen, dass sie bereit wären, für das Interim auf irgendetwas zu verzichten. Man muss sich das vorstellen: Ungefähr 100 Künstler sind an der Wagenhalle aktiv, 100 Hobbygärtner im Stadtgarten. Abend für Abend würden weit über tausend Opernbesucher das Containerdorf durchqueren, wenn sie von der nächstgelegenen Straßenbahnhaltestelle Pragfriedhof kommen. Vor der Sanierung der Wagenhalle gab es kontroverse Diskussionen, ob die Parkplätze für den Kulturbetrieb ausreichen. Nun sollen mehr als doppelt so viele Besucher auf das Gelände strömen, aber Parkplätze sind kein Thema.
Eine vergiftete Gesellschaft braucht urbanes Gärtnern
Wenn der Stadtacker von seinem jetzigen Standort weichen muss, sagt Elisa Bienzle, müsste er noch einmal ganz von vorn anfangen. Alles was hier, wortwörtlich wie im übertragenen Sinne, gewachsen ist, müsste weg: die Himbeeren, die Wildbienen, die Kräuterspirale, das Feuchtbiotop. Alles ist in den letzten sieben Jahren entstanden, außer einer riesigen Weide, unter deren herabhängenden Zweigen, von der Außenwelt abgeschirmt, die Versammlungen stattfinden. Ein einzigartiger Ort. Auf dem Areal stand einmal ein Eisenbahn-Ausbesserungswerk. 2012 wurde es dekontaminiert, also mehrere Meter tief abgegraben. Mit dem Architekturfestival „72 Hours Urban Action“ begann das Urban Gardening. Der Stadtacker arbeitet nicht mit Kunstdünger. Alles ist biologisch. Es kommt auf die Fruchtfolge an, aber auch auf die Nachbarschaften. Zwischen den Pflanzen, aber auch zwischen den Menschen. Ein Geben und Nehmen. Eben deshalb sind Urban-Gardening-Projekte ein Modell für die ganze Gesellschaft, ein Modell der Ökologie, aber auch der Demokratie. Genau das, was eine in vielfacher Hinsicht vergiftete Gesellschaft am meisten benötigt. Wenn es allerdings nach Bauvorschriften und Grundstückswerten geht, nach fest zementierten Gemeinderatsbeschlüssen oder mächtigen Flächenkonkurrenten, stehen sie auf verlorenem Posten. Deshalb benötigt Urban Gardening einen besonderen Schutz. Die Stadt Stuttgart muss sich entscheiden. Und das scheint ein äußerst schwieriges Unterfangen zu sein. Nach neun Tagen und mehrfachem Nachfragen lässt Baubürgermeister Peter Pätzold (Grüne) antworten. Die beiden Projekte Inselgrün und Stadtacker sollen „weiter bestehen bleiben und nicht verschwinden“, teilt die Pressestelle mit. Ob sie ihre Standorte verlassen müssen und wo sie dann hinsollen, sagt sie nicht. Zum Inselgrün heißt es lediglich, es gebe Überlegungen, „wie man in der Sanierungs- und Umbauphase die Flächen nutzen kann“. Beim Stadtacker sei „man noch in Gesprächen“.