11. Oktober 2020 , Stuttgarter Zeitung
Ein Riesengewinn für die Stadt
Die Umbauten sind abgeschlossen: In den Wagenhallen sind die Künstlerateliers eröffnet worden. Damit besitzt Stuttgart ein spektakuläres Kreativquartier, das den gesamten Kulturbetrieb voranbringen wird.
Stuttgart – So ordentlich wird das Atelier von Stefan Rohrer sicher nie mehr sein. Noch steht nur eine seiner dynamisch verwirbelten Autoskulpturen mitten in der großen Halle, bald aber wird hier heftig gearbeitet werden. Am vergangenen Wochenende sind die letzten Ateliers in den Wagenhallen offiziell eingeweiht worden. Damit besitzt Stuttgart eine spektakuläre, quietschlebendige Künstlerstadt, die den Kunstbetrieb verändern wird.
Mehrere Jahre lang ist das „Kulturschutzgebiet“, wie die Künstler das Areal getauft hatten, in eine vielfältige Produktionsstätte verwandelt worden. Im vergangenen Jahr ging neben zwei alten Atelierhäusern ein Neubau mit schöner Klinkerfassade in den Betrieb. Nun ist auch die große Halle fertig geworden, in die das Stuttgarter Architektur- und Gestaltungsbüro Atelier Brückner schlichte und zweckmäßige Holzbauten eingefügt hat, zweistöckige Ateliers aus einfachen Spanplatten. Die Nutzer konnten entscheiden, ob sie das blanke Holz oder weiße Wände wollten und ob der obere Raum abgeschlossen oder Galerie ist.
Ungewöhnlich für Stuttgart: Die neuen Ateliers sollten bezahlbar sein
Hundert Ateliers, Werkstätten und Studios stehen nun zur Verfügung, die die Misere der Künstlerschaft in der Stadt lindert, weil sie vor allem eines sind: bezahlbar. Zwischen 3,50 und 5,50 Euro kostet der Quadratmeter. Fast das gesamte Who’s who der Stuttgarter Kunstszene arbeitet nun hier – Thomas Putze, Pia Maria Martin oder Gabriela Oberkofler. Auch Justyna Koeke ist von Ludwigsburg in die Wagenhallen umgezogen, in denen nun gemalt, gesägt und programmiert wird, wo man schreiben „oder mal wieder spinnen kann“, wie es Sigrun Kilger vom Ensemble Materialtheater sagt.
Das Figurenspielkollektiv hat ebenfalls eines der zweistöckigen Ateliers bezogen, in dem der gesamte Arbeitsprozess stattfinden kann: von der Konzeption über den Bau der Figuren bis hin zu den Proben. „Es ist hier wahnsinnig inspirierend“, sagt Sigrun Kilger, „man hört immer jemanden, der etwas macht“ – und man kann sicher sein, dass sich alsbald neue künstlerische Kooperationen ergeben werden, von denen das Stuttgarter Kulturpublikum profitieren wird.
Möglich wurde all das durch das Engagement des 2004 gegründeten Kunstvereins, der sich von einer kleinen Initiative zu einem wichtigen Ansprechpartner für die Stadt entwickelt und diese von den Investitionen in die Kunst überzeugen konnte. „Die Selbstorganisation war schwierig, für uns Künstler war es immer ein Zeitproblem“, erzählt die Malerin Susa Reinhardt und ist froh, dass Robin Bischoff inzwischen als hauptamtlicher Geschäftsführer des Vereins tätig ist. Dass er Architekt ist, kam dem Umbau des Areals durchaus zugute. Entscheidungen werden aber nach wie vor im Kollektiv getroffen. In Workshops wurde der Raumbedarf erarbeitet. Ein Gremium vergibt die Ateliers. Und selbstverständlich gibt es für den nun eröffneten Projektraum auch keine künstlerische Leitung, sondern ein Team. Das Programm in dem riesigen Projektraum wird von der Stadt mit 60 000 Euro pro Jahr unterstützt. Neben Ausstellungen soll es auch Veranstaltungen zur Stadtentwicklung geben. Eines der ersten Projekte wird eine Ausstellung zu afrikanischer Musik der Kolonialzeit sein.
Ein Gremium hat entschieden, welche Künstler einziehen
Auch wenn die gigantische Halle über das notwendige technische Equipment verfügt, ist ihr Charakter erhalten geblieben. In den Fluren hängen noch Sicherungskästen, deren Kabel einfach abgezwickt wurden. Zahllose Spuren erzählen in dem Gebäude von der Vergangenheit. Auch die großen Glasfronten wurden nicht ersetzt, sondern man hat neue Fenster vor sie gesetzt.
In den Containern sind bereits junge Künstlerinnen und Künstler nachgerückt
Die Containercity existiert ebenfalls noch. Hier fanden die Künstler während der Umbauten Unterschlupf. Kaum haben sie ihre neuen Ateliers bezogen, sind jüngere Künstler nachgerückt und hoffen, in den Containern bleiben zu können, selbst wenn die Oper hier ein Interimsgebäude erhalten sollte. Für Robin Bischoff ist diese Außenfläche mindestens so wichtig wie die Arbeit in den Wagenhallen selbst, da viele Projekte und Ausstellungen im Außenraum stattfinden. Und tatsächlich ist dieses Sammelsurium so charmant und originell, dass man es nicht missen will. Es hat schon seine Gründe, dass das „Kulturschutzgebiet“ 2018 mit dem Deutschen Städtebaupreis ausgezeichnet wurde.