2. September 2018, Stuttgarter Zeitung

Stadtpalais: Stuttgart am Meer Die Vorschläge sind zahlreich: Tunnel, goldene Brücken, Deckel, mit Pferdebrunnen gekrönt. So will man die Kulturmeile zum Boulevard machen. Dass es einfacher geht, zeigen Lukasz Lendzinski und Peter Weigand vom Büro Umschichten. Man braucht eine Idee, etwas Geld, viel Holz – und Mut.

Stuttgart – Sie haben ein Wunder vollbracht. Und Stuttgart ans Meer gerückt. Oder zumindest das, was ein dem Wasser entwöhnter Stuttgarter für ein Meer hält. Der Fluss ist weit weg, draußen im Neckartal, der Nesenbach verdolt, der Eckensee muffelt, da wirken zwei Becken mit Wasser vor dem Stadtmuseum wie eine Offenbarung. Kinder planschen, Erwachsene kühlen sich die Füße. Nebenan in den Holztipis sitzen Menschen, lesen Bücher, tratschen, dösen; in den Hängematten trauen sich Schwaben, in aller Öffentlichkeit die Seele baumeln zu lassen, auf den Terrassen hinterm Haus packen Müßiggänger ihr Picknick aus, auf der Half Pipe unter der Brücke rennen Kinder auf und ab. An der Konrad-Adenauer-Straße bewegen sich nicht nur Autos, auch Menschen sind plötzlich gerne dort.

Irrungen und Wirrungen in Sache Kulturmeile

Ein Wunder? Folgte man der Stadtpolitik mit ihren Irrungen und Wirrungen in Sachen Kulturmeile, schien es fast schwieriger, über Wasser zu wandeln als der Stadtautobahn Lebensqualität abzutrotzen. Doch so kompliziert war es gar nicht, finden Museumsdirektor Torben Giese und Peter Weigand. Giese wollte das Stadtpalais genannte Stadtmuseum öffnen, also dafür sorgen, dass Leute vorbeikommen und reinschauen. Doch wie macht man das? Freier Eintritt gut und schön, aber wie bringt man die Leute dazu, auf diese Seite der Straße zu kommen? Weg von Karlsplatz, Schlossplatz, Schlossgarten. Das rare Gut Wasser kam ihm in den Sinn, „Stuttgart am Meer“ sollte es sein. Da kamen Lendzinski, Weigand und ihre Mitarbeiter ins Spiel. In den Wagenhallen haben sie sich gefunden, dort sitzen sie heute noch. Seit gut 15 Jahren beschäftigen sie sich damit, Orte zu nutzen, die brachliegen, die vergessen sind, die man nicht beachtet – leer stehende Häuser, Baustellen, Ödland. 2008 haben sie ein Gelände beim Ufa-Kino auf Zeit urbar gemacht, sie bauten Container auf und eine Bühne, ein Freibad, Autoren lasen, Künstler musizierten oder stellten Skulpturen aus. Nach vier Wochen verschwanden sie wieder.

Wie gestaltet man Umbrüche?

Umbrüche zu gestalten und zu nutzen, das reizt sie. „Eine Stadt wird sich immer verändern, die Frage ist: Was machen wir daraus?“, ist ihr Motto. Die Antworten liefern sie mittlerweile auch in Hamburg, Berlin oder Wien. In Heilbronn gestalten sie das Besucherzentrum der Bundesgartenschau in einer alten Industriehalle mit. In Köln hatte man sie nach Chorweiler gerufen. Inmitten der Plattenbauten wollte man die Freiflächen umgestalten. Die Leute sollten mitreden. Allein, sie wollten nicht. An sie ranzukommen, das sollte Umschichten erreichen. Sie bauten quasi ein Bürgerzentrum, errichteten mit den Anwohnern ein Fußballfeld, ein riesiges Schachbrett, eine Kletterwand. Man kam ins Gespräch, sammelte Ideen. Weigand: „Die Spezialisten für diesen Ort sind die Menschen, die dort wohnen, nicht der Architekt.“ So waren sie auch gespannt, ob die „Stadt am Meer“ funktioniert. Gebaut für 20 000 Euro. „Wir planen nicht alles fertig, die Leute wissen besser, was sie brauchen.“ Ihn würde es nicht stören, würde einer ein Tipi zerlegen und neu zusammenbauen. Im Gegenteil: „Das wäre prima, wir stellen Strukturen zur Verfügung, was die Leute daraus machen, entscheiden sie.“

Es braucht jemand, der Verantwortung übernimmt

Hört sich einfach an. Aber „es braucht Leute, die sagen: Komm, wir machen das!“, und Verantwortung übernehmen. „Wir haben nicht das Geld und die Resourcen, alles supersupersicher zu bauen“, sagt Weigand, „wir müssen darauf vertrauen, dass alle die Bauten nach bestem Wissen und Gewissen nutzen.“ Aber man müsse damit leben, dass man nicht alles kontrollieren könne. „Da ist es dann, wo es spannend wird!“ Und er gibt bedenken: „Wenn sich alle absichern, passiert eben auch nichts.“ Giese hat die Verantwortung übernommen, weil er wollte, dass etwas passiert. „Aber das ist für uns auch einfacher, weil der Ort keine öffentliche Fläche ist“, sagt er. Zunächst zweifelte er, „ob das funktioniert“. Mittlerweile ist er „total glücklich, wie die Menschen uns annehmen“. Rund ums Museum ist ein Ort entstanden, den die Stuttgarter lieben. Ob nun drum herum 20 000 oder 50 000 Wagen fahren, ob die Luft einer Autostadt angemessen riecht, völlig egal, die Menschen sind plötzlich gerne an der Kulturmeile. Ein Wunder.