23. März 2022 , KONTEXT: Wochenzeitung
Als Clemens Schneider ein großes Papier brauchte, das auf dem Markt nicht erhältlich war, erfand er selbst ein Verfahren, es herzustellen. Aus Dingen, die andere wegwerfen, schafft der Stuttgarter Künstler neue Werte. In seinen Händen verwandelt sich Lärm in Wohlklang.
Ein 52 Meter langer, drei Meter breiter, hochkant gestellter Bogen aus handgeschöpftem Papier windet sich um den Projektraum des Stuttgarter Kunstvereins Wagenhalle. Das Wort „handgeschöpft“ ist nicht ganz korrekt: Es gibt eine Vorstellung davon, wie das Papier aussieht. Doch ein Sieb dieser Größe in den Papierbrei zu tauchen: Das ist nicht gut möglich. Clemens Schneider hat sein eigenes Verfahren erfunden, als er vor sechs Jahren für eine Zeichnung ein großes Papier brauchte, das auf dem Markt nicht zu finden war.
Hadernpapier wäre das richtige Wort dafür. Im Schimpfwort „Haderlump“ – eigentlich eine Verdoppelung, denn Hadern und Lumpen sind dasselbe – ist das Wort noch präsent. So wurden verächtlich die Lumpensammler bezeichnet, die Habenichtse und Taugenichtse, schwäbisch auch „Lumpensäcke“ genannt, die als „fahrendes Volk“ Alt-Textilien für die Papierherstellung sammelten. In früheren Zeiten ein begehrter Rohstoff.
Das Papier im Ausstellungsraum changiert zwischen drei Farbtönen: Zwischen einem hellen und einem dunkleren Blau leuchten je nach Tageszeit, von hinten angestrahlt, helle Flecken hervor. Pulp Painting nennt sich das Verfahren, zu Deutsch auch Zellstoffmalerei: Von Hand nimmt der Künstler den verschiedenfarbigen Papierbrei, die Pulpe, aus der Bütte und verteilt sie auf das Sieb. Schneider hat Blue Jeans verarbeitet, daher kommen die Blautöne.
Ein feines Summen liegt in der Luft. Bei der Papierherstellung hat Schneider Kontaktmikrophone in den Papierbrei gelegt, die mit eingetrocknet sind und nun als Lautsprecher wirken, mit dem Papier als Membran. Das Signal kommt aus einem Apparat, der weiter vorne im Raum an der Wand hängt: der Noise Harp.
Und das kam so: In sein Atelier im Kellergeschoss eines Hinterhofgebäudes im Stuttgarter Leonhardsviertel drang eines Tages der unbeschreibliche Lärm einer Asphaltiermaschine. Schneider beschloss, den Krach in Musik zu verwandeln. Ein kleiner Lautsprecher bedröhnt vier Saiten und versetzt sie in harmonische Schwingungen, die nun in der Wagenhalle den Raum erfüllen. Natürlich lassen sich auch andere Klänge einspeisen, wie es das Duo Noise Bridge, Sopranstimme und Bassklarinette, in einem Konzert getan hat.
Etwas Besonderes ist auch das Ausstellungsplakat. Es besteht aus handgeschöpftem Papier. Eigentlich ist jedes einzelne ein Unikat, das für 35 Euro erworben werden kann. In leuchtend roter Farbe sind die Daten und Details zur Ausstellung angegeben. Doch das Wichtigste tritt erst im Dunkeln hervor, in phosphoreszierenden, grüngelben Großbuchstaben: „Clemens Schneider“, steht da. „The Magic Paper Room“.
Steil geht die Treppe hinab zu Schneiders Atelier im Hinterhof in der Leonhardstraße. Hoch sind die Räume, groß wie eine Vierzimmerwohnung, allerdings unbeheizt. Gleich am Eingang steht der Besucher einer Serie etwa drei mal drei Meter großer Zeichnungen von Abbruchhäusern gegenüber. Wände und Decken sind angeknabbert, rostige Bewehrungseisen stehen in die Luft, an denen dicke Betonbrocken hängen. „Meine Stuttgart-Bilder“, sagt Schneider: angefertigt mit Zeichenkohle auf selbst gefertigtem Papier nach Fotos von Abbruchhäusern aus dem Stadtgebiet.
Schneiders Atelier ist so etwas wie die Antithese dazu. Hier ist nahezu alles recycelt, nichts neu. Eine große Zahl schwarzer Wand-, Steh-, Scheren- und Schreibtischlampen im klassischen Bauhaus-Stil hat er im Osten Deutschlands erworben. Vieles stammt aus Abbruchhäusern: wie die Bar oder das Holz seiner großen Vorrichtung zur Herstellung der XXL-Papierformate, samt der alten Treppe, die auf einen Steg zwischen beiden Walzen hinauf führt.
Oder der Schrank, der an der Wand hängt, in dem viele Gläser mit Farbpulver stehen. Einige der Pigmente sind von weit her, er hat sie auf Reisen erworben. Die Schranktür war ein Fenster in einem Altbau, ein paar Häuser weiter in der Stuttgarter Jakobstraße. Der Bau soll marode gewesen sein. Die rumänischen Arbeiter, die Schneider beim Ausbau geholfen haben, hätten ihm gezeigt, welche Balken tatsächlich marode waren, erzählt Schneider. „Bei uns hätte man nur diese Balken ersetzt und den Rest erhalten“, sollen sie gesagt haben. Innen sei das Haus sehr schön gewesen. Aber es hatte nur wenig vermietbare Fläche.
Handwerklich ausgebildet als Steinbildhauer, hat Schneider an der Stuttgarter Kunstakademie Malerei studiert. Er weiß sich zu helfen. Ein alter Ventilator, bei dem der Motor nicht mehr läuft, kommt für ihn wie gerufen. Er schraubt das Gehäuse auf, sieht dass das Schmierfett verharzt ist, reinigt alles gründlich, fettet es neu, und schon läuft der Elektromotor wieder und der Künstler hat ein Gebläse, um das Papier zu trocknen.
Drei Schritte braucht es, um Lumpen in Papier zu verwandeln. Zuerst werden die Stoffreste in kleine Fetzen geschnitten. Dafür hat Schneider eine Art hölzerne Wanne gebaut, mit einer kleinen Kreissäge. Mit einem Schieber aus Holz – um sich nicht in die Finger zu sägen – schiebt er die Stoffreste im Kreis herum, immer wieder unter dem Sägeblatt durch. Die zweite Maschine heißt Holländer. Es gibt sie seit mehr als 300 Jahren. Schneider hat auch seinen Holländer selbst konstruiert. Eine Messerwalze zermalmt die im Wasser liegenden Stofffetzen zu einem Brei, der Pulpe, aus der dann das Papier geschöpft wird.
Und nun kommt Schneiders eigene Erfindung ins Spiel. In der Bütte trägt er den fertigen Brei in den hintersten Raum seines Ateliers, den der große Apparat fast vollständig ausfüllt. Ein stabiles Windschutznetz, wie es in der Landwirtschaft Verwendung findet, ist nach Aussage des Künstlers so ziemlich das Einzige in seinem Atelier, das er neu erworben hat. Darauf verteilt er von Hand die Pulpe, bis eine vielleicht 50 Zentimeter breite Fläche gänzlich von Faserbrei bedeckt ist.
Das Wasser läuft ab, und der Künstler zieht das Netz mit einer Kurbel ein Stück weiter. Nun klebt der Brei an dem senkrecht herabhängenden Netz, wird weiter oben von den Ventilatoren getrocknet und dann auf eine Walze gewickelt. Wenn er glattes Papier will, gibt es eine zweite Walze, über die er die noch feuchte Masse hängt und sie glatt streicht.
Kunst ist ein Prozess. Alles entwickelt sich ständig weiter. Vor ungefähr sechs Jahren hat Schneider mit Hilfe des Kulturamts sein jetziges Atelier gefunden. Sein altes an der Paulinenbrücke war für die Papierherstellung zu klein. Nicht nur die Maschinen hat er selbst gebaut. Er entwickelt immer wieder neue Ideen und Verfahren. So schneidet er, um räumliche Wirkungen zu erzielen wie in der Zentralperspektive der Renaissance, zwei verschiedenfarbige Papiere in trapezförmige Stücke, die er so zusammensetzt, dass sich ein nach hinten verjüngendes Schachbrettmuster ergibt.
Aus Lumpen, Abfall, entsteht kostbares Büttenpapier: So benannt nach dem Zuber, aus dem der Papierbrei geschöpft wird. Schneider gehört zu den wenigen Künstlern, die von ihrer Kunst leben können. Es passt alles zusammen: Der Ort seines Ateliers, im einzigen fast vollständig erhaltenen Stuttgarter Altstadtviertel, hinter der früheren Weinstube Widmer, der alten Künstlerkneipe; das Recycling, die Wiederverwertung alter Materialien und Geräte; die Thematik seiner Bilder, die sich der Wegwerfgesellschaft entgegensetzen.
Schneider hat nur eine Sorge: Dass auch im Leonhardsviertel ein Gentrifizierungsprozess einsetzen könnte, der die heutigen Nutzer vertreibt. Er meint nicht die Bordellbesitzer, sondern die Anwohner, die Kneipiers, alle, die wie er hier noch Räumlichkeiten gefunden haben, die sie sich leisten können.
In sein Atelier, unter der Erde im Hinterhof, dringt nicht nur der Lärm der Asphaltiermaschine, sondern auch sonst alles, was im Quartier rumort: Auch die Befürchtungen, die das Beteiligungsverfahren in der Leonhardsvorstadt zur Internationale Bauausstellung 2027 auslöst – ob sie berechtigt sind oder nicht, wird von der Stadt abhängen. Das Gebäude, in dem nun der Puffbesitzer sein Katz-und-Maus-Spiel treibt, hat die Stadt ihm selbst 2009 verkauft. Das Haus mit Schneiders Atelier hat die Stadt ebenfalls verkauft, an die Stuttgarter Wohnungs- und Städtebaugesellschaft SWSG. In diesem Jahr will die SWSG wieder einmal ihre Mieten erhöhen, im Gemeinderat ist das heftig umstritten. Auch dies ist ein Stoff, der Clemens Schneider beschäftigt. Der, wenn sich die Gelegenheit ergibt, auch in seine Bilder einfließt. Wie im Fall der Abbruchhäuser.
Wer den Künstler in seinem Atelier besucht, sollte ein wenig Zeit mitbringen. Sonst kann es sein, dass ihm einiges entgeht. Wenn alles gut geht, könnte es hier bald auch wieder Ausstellungen und Vernissagen geben. Stoff für neue Geschichten.