3. Juni 2015 , kontextwochenzeitung
Künstler der Wagenhalle, soziale Einrichtungen und Bewohner des Stuttgarter Nordbahnhofviertels sind dabei, sich zu vernetzen. Untereinander, aber auch mit Israel und Barcelona. Nächste Etappe: das Internationale Straßenfest am 13. Juni.
„Im ersten Moment habe ich gedacht: Oh nein! Noch so ein Projekt“, erzählt Kirsten Maiba. Sie ist die Seele des Kinder- und Jugendhauses Nord in der Mittnachtstraße im Stuttgarter Nordbahnhofviertel. Maiba hat immer viel um die Ohren. Sie arbeitet zusammen mit Schulen und Kitas und dem Haus 49 gleich nebenan, einer Anlaufstelle für Familien und Anwohner des internationalen Quartiers. Viele ihrer Projekte reichen über die eigentliche Jugendhausarbeit weit hinaus. Im Moment steht Maiba in einem Container vor dem Jugendhaus und kocht.
Der Küchencontainer stammt von „umschichten“. So nennen die beiden Architekten Lukasz Lendzinski und Peter Weigand ihr Büro in der Wagenhalle, weil sie mit vorhandenen Materialien arbeiten, mit Holzplatten, Isomatten oder Gurten, die sie immer wieder neu arrangieren und recyceln. Dazu gehören auch vier Container, von denen nun immer wieder mal einer im Nordbahnhofviertel zum Einsatz kommt. Tour de Nord nennt sich das Programm. Die erste Station ist das Kinder- und Jugendhaus mit dem Küchencontainer.
Die Tour de Nord ist ein Kunstprojekt, das die Künstler der Wagenhalle mit den Bewohnern des Nordbahnhofviertels verbindet. Es ist ein Vernetzungsprojekt. Es knüpft Verbindungen zwischen den Protagonisten vor Ort, aber auch ins Ausland. Denn die Tour de Nord ist ein Teil des Projekts Glocal Neighbours, einer Kooperation mit dem Medienkunstzentrum Israeli Center for Digital Art in Holon, einer grauen Industriestadt im Dunstkreis von Tel Aviv.
Im Nachbarort Bat Yam hatten die beiden Architekten von „umschichten“ 2010 bei dem Architektur-Festival 72 Hour Urban Action den ersten Preis gewonnen. Zehn international zusammengewürfelte Teams hatten in drei Tagen und drei Nächten jeweils eine Aufgabe zu erfüllen. Zwei Jahre später holten Lendzinski und Weigand das Festival nach Stuttgart. Damals entstanden im Nordbahnhofviertel und bei der Wagenhalle zehn hölzerne Konstruktionen. Die Bewohner des Viertels fühlten sich überrumpelt und verstanden den Sinn des Projekts nicht. Es war das erste Mal, dass Künstler der Wagenhalle mit dem angrenzenden Quartier in Kontakt traten.
In Holon in Israel gab es eine ähnliche Situation. Der Leiter des Israeli Center for Digital Art hatte eines Tages die Wände mit Graffiti besprüht vorgefunden. Statt die Sprühereien zu entfernen, suchte er den Kontakt zu den Jugendlichen des angrenzenden Wohnquartiers, der Jessy Cohen Neighbourhood, wo viele Menschen äthiopischer Herkunft wohnen. Seither arbeitet das Zentrum mit dem Viertel und seinen Jugendlichen zusammen.
Das Israeli Center for Digital Art, oder auch „Digital Art Lab“, wurde 2001 während der Zweiten Intifada und zur Zeit des israelischen Mauerbaus gegründet und hat sich von Anfang an die Zusammenarbeit gesucht: mit den palästinensischen Nachbarn im Westjordanland, in Israel und im Gazastreifen; mit unabhängigen Kunstzentren auf der ganzen Welt; aber eben auch mit dem angrenzenden Viertel. Das vom deutsch-israelischen Zukunftsfonds finanzierte Projekt Glocal Neighbours zielt auf eine langfristige Zusammenarbeit zwischen dem Nordbahnhofviertel und dem Jessy-Cohen-Viertel in Holon, um einen Wissensaustausch zu generieren und den Effekten einer Stadtentwicklung entgegenzuwirken, die rein auf Ökonomie basiert.
Im Dezember 2013 reisten vier Künstler aus der Wagenhalle und vier Beteiligte aus dem Nordbahnhofviertel erstmals nach Israel. Im April erfolgte ein Gegenbesuch. Mitarbeiter des Israeli Center for Digital Art und von Sozialeinrichtungen der Jessy Cohen Neighbourhood ließen sich das Nordbahnhofviertel und die Wagenhalle samt Eisenbahnwaggons zeigen. „Das Viertel ist die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen“, betont Maiba, „die muss uns interessieren.“
Kürzlich ist der Künstler Aurèle Mechler, ein Künstler, der auch beim ersten Besuch in Holon mit dabei war, mit seinem Atelier von der Wagenhalle zur Galerie 77 gare du nord an die Nordbahnhofstraße gezogen. Anfangs gab es Berührungsängste, heute hocken Jugendliche auf den Stufen vor der Galerie und fühlen sich offensichtlich zu Hause. Und so hat der Austausch begonnen zwischen der Kunst und dem Leben um sie herum.
Im April hat eine Gruppe Mädchen vom Jugendhaus den Küchencontainer vor der Wagenhalle besprüht, der nun, während des Besuchs aus Barcelona und Holon in der Mittnachtstraße steht. Viele Leute aus dem Viertel seien diese Woche vorbeigekommen, sagt Maiba, darunter, was sie besonders freut, auch Flüchtlinge aus der Unterkunft in der Nordbahnhofstraße. Der Bildhauer Thomas Putze hat mit Schülern der Rosensteinschule eine große Skulptur angefertigt, die er „Zugmaschine“ nennt.
Zum Internationalen Straßenfest, das vor allem das Haus 49 mit vielen Vereinen am 13. Juni im ganzen Stadtviertel ausrichtet, soll die „Zugmaschine“ von der Wagenhalle ins Nordbahnhofviertel umziehen. Sie wird neben einem weiteren Container von „umschichten“ stehen, der diesmal als Ausstellungsraum dient. Dort werden die Geschichte des Künstlerareals und Zukunftsvisionen für die Wagenhalle vorgestellt. Und Mai Omer, die das umfangreiche Videoarchiv des Israeli Center for Digital Art leitet, soll auch etwas beisteuern.
Der Architekt Lendzinski spricht von einem Wissensquartier. Wie der Ausstellungscontainer die Arbeit im Inneren der Wagenhalle nach außen trägt, so trage das Projekt Glocal Neighbours zu einem Wissensaustausch bei. „Was braucht eine Stadt?“, fragt der Architekt und: „An welchen Orten soll das stattfinden?“ Und bisweilen stellt er sich auch die Frage: Ist das noch Kunst oder schon Sozialarbeit? Und welche Rolle kann Kunst für ein Quartier spielen? Gegenüber Veranstaltungen wie Urbane Künste Ruhr oder dem Subvision Festival der HafenCity Hamburg, in denen er sich sonst bewegt, spürt er bei diesem Projekt eine größere Relevanz und Lebendigkeit.
In Programmen des Landes und der Stadt stehen kulturelle Teilhabe und interkultureller Austausch ganz oben auf der Liste. Beim Nordbahnhof-Projekt findet beides statt, und zwar mit Kindern und Jugendlichen, die normalerweise nicht zu den pädagogischen Programmen der Museen oder des Staatstheaters kommen. Maiba war zuletzt im März in Israel. Sie sei „zutiefst beeindruckt und gerührt“, sagt die Leiterin des Kinder- und Jugendhauses heute über das Projekt. Es sei „sehr bereichernd, seine Sicht zu ändern und Inputs zu bekommen“. Dann fügt sie hinzu: „Man kann die Welt verändern.“ Es hat nicht den Anschein, als ob sie damit eine ferne Zukunft meint.