1. Mai 2019 , Kunstmagazin PARNASS
In Stuttgarts Nordbahnhofviertel befanden sich einst die Wageninstandsetzungshalle und das Areal, in dem die Eisenbahner mit ihren Familien wohnten. Im Zuge von Stuttgart 21 wurden die riesigen Hallen, die bis 2003 im Besitz der Deutschen Bahn waren, von der Stadt Stuttgart gekauft. Die dazugehörigen Flächen waren für ein zukünftiges Wohngebiet im Rahmen von S21 vorgesehen. Seit 2004 haben sich in der ehemaligen Wageninstandsetzungshalle Künstler Ateliers eingerichtet und diese damit vor dem Abriss bewahrt. Zusammengeschlossen zum Kunstverein Wagenhalle e.V., haben sich seitdem Kreative und Kulturschaffende einen Freiraum aufgebaut, der zu einem international beachteten Transformator wurde und die Rolle künstlerischer Strategien für die Stadtentwicklung aufzeigt. Aus der anfangs befristeten Zwischennutzung entstand eine dauerhafte Einrichtung. 2015 wurde die Sanierung der noch verbleibenden Halle beschlossen. Sie wird zum einen Teil als Veranstaltungsbetrieb genutzt, der zweite, größere Teil, wird aktuell zu Ateliers und einem Ausstellungs-und Projektraum ausgebaut.
Als Interimsquartier wurde von den Kulturschaffenden die Container City errichtet. Über 100 Container und zwei Eisenbahnwaggons werden als Ateliers, Proberäume und Büros genutzt, mit einem breiten, interdisziplinären Spektrum. Kunstprojekte wie „Pylonia“ von Performance Electrics, die „Rosensteinalm“ von Gabriela Oberkofler, das „Musterhaus“ von Studio Umschichten oder das „Theatre of the Long Now“ des Bureau Baubotanik wurden eigens für den Ort entwickelt. Enge Kooperationen bestehen auch mit den auf dem Gelände ansässigen soziokulturellen Projekten wie „Fahrräder für Afrika e.V.“, den Urban Gardeners vom „Stadtacker e.V.“ und der Tanzschule „Tango Ocho“. Der Projektraum TAUT – Temporary Artists Utopia Tool – des Kunstvereins Wagenhalle, initiiert von Robin Bischoff, Vorsitzender des Kunstverein Wagenhalle und Geschäftsführer der gemeinnützigen GmbH, und Anja Koch, dient ansässigen und geladenen Künstlern als offene Plattform. Es finden Ausstellungen, Vorträge, Symposien, Performances, Filmvorführungen und Workshops statt. Der Marktplatz ist zentraler Treffpunkt und dient auch als Ort der Begegnung der Stuttgarter Bürger mit den ansässigen Künstlern. Die Wagenhalle ist zu einem Modellfall geworden und zeigt die Rolle künstlerischer Strategien für die Stadtentwicklung auf.
2015 initiierte Robin Bischoff im Projektraum TAUT die Reihe Kulturschutzgebiete, wo Architekten, Stadtplaner, Künstler, Wissenschaftler und Bürger sich gemeinsam mit den Transformationsprozessen rund um das Nordbahnhofquartier beschäftigten. Parallel dazu erklärte der Kunstverein Wagenhalle das gesamte Areal des Containerdorfes zum „Kulturschutzgebiet“, wofür die Künstler Sylvia Winkler und Stephan Köperl 2016 Schilder entwickelten und an den Eingängen zum Areal platzierten. 2017 begann die Renovierung der Wagenhalle durch das Stuttgarter Architektenbüro Atelier Brückner, dem eine Sanierung gelang, die den Charme und die Geschichte der alten Wagenhalle erhalten hat und mittlerweile als Vorzeigeprojekt für den richtigen Umgang mit Architekturgeschichte gilt. Es ist hier etwas Einzigartiges entstanden, das trotz unterschiedlicher künstlerischen Positionen eine klare Struktur besitzt, so Bischoff. Als Vertreter des Kollektivs führt er auch die Gespräche mit der Stadtpolitik. Zwar ist die Existenz der Wagenhalle als Produktionsstätte gesichert, doch auf der Suche nach einem Ausweichquartier für die Stuttgarter Oper während ihrer Sanierung ist man auf das Areal beim Nordbahnhof gestoßen. Für eine Koexistenz mit der Interimsoper ist jedoch zu wenig Platz und daher plädieren die Künstler für den Erhalt des Areals.
Ihre Pionierarbeit wurde mittlerweile ausgezeichnet. 2018 erhielt das Kulturschutzgebiet Wagenhalle/Container City gemeinsam mit Studio Malta für ihre nachhaltige Stadterneuerung eine Belobigung des Deutschen Städtebaupreises. Eine ähnliche Auszeichnung vergab die Jury des italienischen Städtebaupreises RIUSO_06. Der Ort hat Zukunftspotenzial – nicht nur als Ausstellungsfläche, sondern auch als Raum, in dem experimentiert werden kann und wo sich städtebauliche und ökologische Visionen realisieren lassen – und so sehen die Künstler ihre Container City als Projekt bei der Internationalen Bauausstellung 2027, das Maßstäbe im Städtebau setzen möchte. Die am 8. April gekürten beiden ersten Preise des internationalen offenen städtebaulichen Wettbewerbs Rosenstein haben das Kulturschutzgebiet/Container City oder eine „Stärkung“ des Experimentierfeldes vor der Wagenhalle fest eingeplant.