9. Oktober 2017, Stuttgarter Zeitung

Auftritt Kunstverein Wagenhalle: Der Katalog zur Künstlerkolonie am Stuttgarter Nordbahnhof ist fertig, ein dicker Band voller Bilder und Statements, der hineinführt in die Ateliers, ihre Geschichte reflektiert, ihre Zukunft sondiert. Alles in allem liegt damit ein Porträt einer Subkultur mit vielen Gesichtern vor, die sich produktiv nahe am Herzen der Stadt angesiedelt hat. Am Samstag präsentierte der Verein sein Werk, nun liegt es in den Buchhandlungen.

Aufnahmen von Korallen und einer Banane, ein silbergrauer Umschlag, darauf der Slogan in drei Zeilen: „Mehr/Hallen/wagen“. So beginnt die Reise in die Wagenhalle,die Containerstadt, die bisher ihr Ersatz ist, die in der Zukunft, so hoffen die Künstler, ihre Erweiterung sein wird. Die Wagenhallen werden saniert, ragen nur noch auf als ein architektonisches Gerüst am Stuttgarter Nordbahnhof. Der Veranstaltungsbetrieb, der einen Teil der Hallen bespielte, schläft, die Künstler, die in ihrem anderen Teil arbeiteten, sind ausgezogen, haben sich, wie berichtet, in den Containern eingerichtet.

Für den Kunstverein Wagenhalle brachte die Notlösung neue inhaltliche Perspektiven. „Der Umzug in die Containercity“, sagt Robin Bischoff, der Vorsitzende des Vereins, „hat uns durcheinander gewürfelt, hat neue Konstellationen entstehen lassen.“ Wer bisher nebeneinander arbeitete, arbeitet jetzt zusammen; die Wagenhallen werden zum Kollektiv, öffnen sich dabei mehr und mehr und geben auch jenen, für die die Künstlergruppe vom Nordbahnhof bis jetzt nur ein obskures Vom-Hörensagen war, Einblick in ihre Welt.

Knapp 400 Seiten zählt der Katalog, entstanden mit Fördermitteln des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft. Jeder, der vor der Wagenhalle arbeitet, ist mit Bild und Wort vertreten. 54 Künstler, Künstlergruppen stellt der Band so vor, vom Bureau Baubotanik und seinen visionären Konzepten bis zum Pop-Performer Levin Stadler, alias Levin goes lightly. Der Leser lernt Handwerker kennen, Bildhauer, Maler, Tänzer, Denker, Filmemacher, Planer. Er wirft einen Blick in ein Kaleidoskop kollektiver Kreativität, das in einer Stadt wie Stuttgart tatsächlich entstehen konnte, an einem halbvergessenen Ort, der wie das Auge eines städtebaulichen Hurrikans wirken kann.

Der Fotograf Thommy West schuf die Porträts der Wagenhallenkünstler und -künstlerinnen, fotografierte ihre Ateliers, stellt seine Arbeiten im Taut, dem Ausstellungsraum der Containercity aus, sämtlich im selben Format, gehängt in einer Reihe. Bereits am Samstagvormittag versammelten sich die Teilnehmer des „Power Kongresses“ bei den Containern, diskutierten über Energieverbrauch und Macht. Der Künstler Pablo Wendel stieg am Abend mit einem leuchtenden Rucksack den großen, symbolischen Stahlturm hinauf, den er für sein Kunstprojekt „Performance Electrics gGmbH“ am Nordbahnhof errichtete: „Pylonia“, so der Name des Turms. Bazon Brock, der große gewitzte Kunstvermittler und Kulturtheoretiker rief an und hielt vor gut 200 Besuchern der Wagenhalle einen fernmündlichen Vortrag zum Thema. Die Stuttgarter Kulturamtsleiterin Birgit Schneider-Bönninger war zugegen.

Ein Katalog liegt nun vor, der den Geist der Wagenhalle nicht einfängt, sondern aufblitzen lässt, immer wieder. Eine Momentaufnahme, eine Chronik, die zurückschaut, nach vorne, die Porträts, die sie versammelt, einfasst in Bilder aus den alten Hallenateliers und Visualisierungen der Zukunft. Atmosphärische Aufnahmen von damals und dann, vom Leben und Arbeiten, wie es heute vor der Wagenhalle stattfindet. Dazu Statements der Künstler, individuell, kurz oder lang, launisch oder präzise, reflektiert oder spontan. „Es ist Sommer“, notierte der Bildhauer Wolfhart Hähnel. „Ich arbeite in der Halle. Platzregen.Dachrauschen. Glücksrauschen.“

von Thomas Morawitzky

„Mehr Hallen wagen“, der Katalog des Kunstvereins Wagenhalle e.V., 39,90 Euro
Der Katalog ist bei folgenden Stuttgarter Buchhändlern erhältlich: Buchhandlung rita limacher, Karl Krämer Fachbuchhandlung, Osiander Stuttgart am Marktplatz, Buchhandlung Wittwer, Buchhandlung Walther König