4. September 2017 , Reutlinger General-Anzeiger
Das Plakat erinnert an eine Fahndung. Es zeigt 64 Passbilder in Schwarz-Weiß in dunkelroten Rahmen. Die Gesichter gehören keinen Terroristen, sie gehören Künstlern. Der Kunstverein Wagenhalle, Künstlerkolonie am Stuttgarter Nordbahnhof, gibt in der Rottenburger Zehntscheuer seine erste Gruppenausstellung: Eine Schau, die die Stuttgarter Szene in all ihrer Vielfalt zeigt, ein herausforderndes Panorama aktueller Kunst.
An der Wand, gleich neben dem Eingang zur Ausstellung, steht eine Mülltone. Ein Fabrikat alten Stils aus Eisenblech mit Deckel. In der Tonne spricht eine Stimme, spielt ein Gerät die Aufzeichnung ab. Man hört eine Vorlesung des Kunsttheoretikers Bazon Brock. »Stand out of my sunlight« hat der Künstler Helmut Dietz seine Installation genannt und dabei gewiss an Diogenes gedacht. Brock sinniert, so umherschweifend, charmant und gebildet, wie man ihn kennt, über die Einheit von Schwindel und Lüge. Das geistreich gefüllte Abfallbehältnis wirkt wie die Ouvertüre zu einer Ausstellung, in der vieles zusammenkommt, aus Altem Neues wird, die einen Kulturort am Rand des Zentrums der Landeshauptstadt Stuttgart vorstellt.
Über Jahre hinweg ist die Szene am Nordbahnhof gewachsen. Die Rottenburger Ausstellung thematisiert den Prozess selbst: Entwürfe, Grundrisse und Luftaufnahmen der Wagenhallen bilden ihn ab, sind Teil der Ausstellung; Selbstdarstellungen der Künstler im Dialog mit kommunaler Verwaltung und Stadtplanung runden das Bild ab. Seit die Künstler der Wagenhalle ihre Ateliers verlassen mussten, um in einer provisorischen Containerstadt zu arbeiten, treten sie geschlossener an die Öffentlichkeit. Im Mai luden sie beim »Container Open« Publikum in ihre Stadt; in Rottenburg nun zeigen sie sich als Gruppe voller Ideen, Kontraste, Strömungen.
Alles hier steht im Zeichen des Experiments; überall wird die Frage gestellt, wie Künstler sich in der Gegenwart zu Wort melden, positionieren, Themen aufgreifen und zu ihren eigenen machen können. Fotocollage grenzt an Installation, Minimalismus, Malerei, Skulptur; Videoarbeiten erkunden Zeitverläufe; Natur, Umwelt, städtischer Raum, Identitäten werden verhandelt. Audiovisuelle Dokumentationen rufen Projekte auf, die den begrenzten Rahmen einer Ausstellung sprengen. Das Bureau Baubotanik gehört zu den bekanntesten Projekten am Nordbahnhof, beschäftigt sich in Kooperation mit der Universität Stuttgart mit Architekturformen, die lebende Materialien einbeziehen, versucht Stege, Gebäude, statische Konstruktionen aus dem Verbund von Pflanze und Technik zu entwickeln. 2012 gestaltete das Bureau für die Landesgartenschau Nagold einen dreistöckigen Platanenkubus – in der Zehntscheuer erfährt der Besucher viel über die Möglichkeiten dieser Technik.
Populärer Wagenhallen-Schlager sind auch die Dundus, die der Puppenspieler Tobias Husemann entwickelt hat. Die ultraleichten Gliederpuppen, fünf Meter groß und sphärisch leuchtend, sind beliebte Gäste bei Events im Freien, für die Zehntscheuer aber ebenfalls zu klein – dort liegt nur eine Maske, ein Relikt, bei einer schimmernden Sphäre, aus der die Künstlerin Renate Liebel Zweigewachsen lässt. Stefan Rohrer, geboren in Göppingen, verwandelt das Heilige Bleche der Schwaben, das Kfz, auf einfallsreiche Weise in Skulptur, gibt ihm farbenfroh die längst abhanden gekommene Ästhetik zurück. Rohrer schuf psychedelisch entgrenzte Volkswagen für Verkehrsinseln – in Rottenburg lässt er einen Motorroller entgleisen, lässt ihn eine Schwalbe ziehen, in einem fast unvorstellbar wörtlichen Sinne.
Daneben die Kollisionen von Kitsch und Pornografie, die Domile Ragauskaite aus Porzellan erschafft, die Netzwerke von Ruth Baumann, die zu Schattengemälden werden. Feine leuchtende oder auf ein Liniengerüst reduzierte Stadtansichten von Birgit Werner, Wochenzeichnungen von Anna Ingerfurth. Und irgendwo das Bild eines Tintenfischs, ein T-Shirt, auf dem steht »You can’t go too slow«, eine kopflose Schaufensterpuppe mit Knochen und Projektor, ein Stück geschweißte Kunst oder die Symbiose aus Wurzelwerk und weiblichem Gesäß, die Justyne Koecke collagierte.
Gabriela Oberkofler schickt einen Hund, eine Katze in verlassene Räume, beobachtet sie; Wolfhart Hähnel schuf zwölf Blumen aus Polyethylentherephthalat, brachte sie an auf einem geschwungenen Holzbrett, stellte sie vor die Mülltonne, in der der Kulturvermittler Brock spricht, nannte sie »Les fleurs du PET«. Moritz Finkbeiner schließlich, der vor den Wagenhallen immer wieder einlädt zur Konzertreihe »Flüssigkeiten und Schwingungen«, hat eine ganze Wand behängt mit den kleinformatigen Plakaten des Stuttgarter Undergrounds, den Geist der Wagenhallen damit vielleicht am authentischsten einfangend.
Manches, aber längst nicht alles geht auf in der Rottenburger Zehntscheuer – und eben das gibt der Ausstellung ihren Reiz: Sie funktioniert als Selbstporträt einer Szene, bei dem der Besucher manchmal glaubt, einem kreativen Funkenflug zu folgen, dem keine Brandschutzmauer standhalten wird.
Author: Thomas Morawitzky