4. November 2014 , Flaneursalon
Neulich war ich in einem roten Doppeldecker-Bus unterwegs und sah mir die Stadt im Vorbeifahren an. Dazu zieht sich der Tourist einen Kopfhörer über die Ohren und verfolgt eine Audio-Show aus der witzigen Marketingabteilung: einen Dialog zwischen Opa und Enkelin. Das Gequassel ist pausenlos toll und cool, voll lustig und vor allem läppisch und unfreiwillig komisch.
Sei’s drum. Als der Doppeldecker auf seiner „Stadterlebnis-Rundfahrt“ nach einem tollen Diskurs übers Schweinemuseum auf dem Killesberg landete, erfuhr der geneigte Kopf-Hörer erst ein wenig über die Weißenhofsiedlung, dann etwas mehr über den Kartenverkauf für das Tennisturnier auf dem Weißenhof. Kein Sterbenswort kam Opa & Enkelin zur Kunstakademie über die feuchten Lippen. Dieses Haus ist 253 Jahre alt und im Gegensatz zu Stuttgarts kulturellem Herzstück namens Schweinemuseum (Enkelin-O-Ton: „süß“) wohl auch in Opas Birne voll vergessen.
Kunst in der Stadt ist seit jeher ein vermintes Gebiet. Kunst ist nun mal eine komplizierte Sache, nicht immer lustig, nicht gefällig und oft erst auf den dritten Hornbrillenblick der Marketingfritzen dazu geschaffen, den „Standortfaktor“, die „Marke“ einer „Kommune“ zu stärken. Die kleine Gemeinde Stuttgart hat das große Glück, dass sich mitten in der Stadt ein großer Kreis guter Kunstschaffender formiert hat. Diese rund 70 Leute haben sich entgegen den üblichen Karrierestrategien in einem Kunstverein organisiert. Und mit erstklassigen Leuten in ihren Reihen finden sie weithin Beachtung.
Es geht um die Künstler der Wagenhallen im Nordbahnhofviertel. Zurzeit haben sie reichlich Ärger mit der Stadtverwaltung, mit der Politik. Was bisher zu wenig an die Öffentlichkeit dringt: Viele dieser Künstler arbeiten auf hohem Niveau, finden Respekt und Resonanz in der überregionalen, in der internationalen Kunstszene. Die Wagenhallen, Überbleibsel der Eisenbahngeschichte, sind in erster Linie als Veranstaltungsort bekannt. Als Location für den Tournee-Betrieb des erweiterten Popgeschäfts, für Partys und Events. Mit ihrem Patina-Charakter und Schmuddel-Charme taugen die Räume längst auch als Austragungsort exklusiver Feste trendbewusster Herrschaften aus dem Bank- und Immobiliengewerbe. Das Veranstaltungsgeschäft wird von einer Firma betrieben, die sich aus den subkulturellen Anfängen der Waggon-Künstler clever nach oben gearbeitet hat. Die Wagenhallen sind heute ein schillernder, ein repräsentativer Ort, für den die Stadt mehr als fünf Millionen Euro zur Sanierung bewilligt hat.
Angeblich reicht dieses Geld inzwischen nicht mehr, auch die Feuerpolizei zu befriedigen. Neben den Event-Bühnen wohnen und arbeiten nämlich Künstler, und seit kurzem leben diese Männer und Frauen in einer vollkommen absurden Situation. Das Rathaus verlangt von ihnen, während aller Wagenhallen-Veranstaltungen ihre Wohnräume und Ateliers verlassen. Schlimmer als in einem Stundenhotel. Dieser Vorgang ist so irr, dass man dafür nur zwei Erklärungen findet: Entweder istf die Stadtverwaltung wie so oft nicht fähig, rein organisatorisch mit ihren kulturellen Ressourcen umzugehen. Oder sie will mal wieder Künstler vertreiben, weil sie keine Ahnung von deren Klasse hat. Man denkt an den 34-jährigen Aktionskünstler Pablo Wendel, der 2006 mit seiner spektakulären Performance im chinesischen Xi’an als heimlich eingereihter Museumskrieger in der scharf bewachten Terrakotta-Armee weltweit für Furore sorgte. Zu den Topleuten der Wagenhallen gehören mit internationalen Preisen und Stipendien ausgezeichnete Künstler wie Gabriela Oberkofler, Stefan Köperl & Silvia Winkler, Pia Maria Martin, Steffen Osvath. Dazu zählen die Architekten Lukas Lendzinski & Peter Weigand, der Musik-Performer Levin Stadler. Diese Namen aus verschiedenen Sparten, etliche mit guten Drähten zur Kunstakademie am Werk, sind nur eine kleine Auswahl.
Leider gibt es bis heute im Kulturausschuss des Gemeinderats Provinzler, die aufgrund ihrer weltläufigen Lebenserfahrung im Kampftrinker-Milieu von Wasen und Weindorf glauben, im Wagenhallen-Umfeld hätten sich vornehmlich Figuren mit Hang zu nicht-alkoholhaltigen Drogen eingenistet. Und viele Stadtpolitiker faseln im Zusammenhang mit Stuttgart 21 bis heute so falsch und verbohrt von einem „Verkehrsprojekt“, dass sie die städtebauliche Dimension des milliardenschweren Immobilienprojekts zwangsläufig ignorieren und die Stadtplanung den Investoren überlassen. Hätten sie eine kulturelle Beziehung zu ihrer Stadt, würden sie die urbane Qualität der Künstlerkolonie am Nordbahnhof eher begreifen. Aber gut, jeder weiß, Immobilien sind effizienter zu nutzen. Man kann jetzt nur an die aufrechten und kundigen Kulturarbeiter im Rathaus appellieren, sich mit der professionellen Kreativität der Wagenhallen-Leute zu beschäftigen. Sonst wird auch an diesem Ort der Stadt gewaltiger Flurschaden entstehen.