10. August 2018 , Stuttgarter Zeitung
S-Nord – Die Kartoffeln sind geerntet, das Beet ist ordentlich geharkt. Daneben hängt ein Strauch voll mit knallroten Tomaten. Zucchinis und Mangold kommen in diesem Jahr auch gut. Doch langsam wird das Wasser knapp, denn zum Gießen gibt’s nur Regenwasser aus der Tonne. Neben dem Künstlerdorf am Inneren Nordbahnhof beackert der Verein Stadtacker Wagenhallen seit sechs Jahren rund 2000 Quadratmeter Boden: 60 bis 70 Hobbygärtner pflanzen auf je vier bis 10 Quadratmetern Gemüse, mitunter auch Blumen an, und bepflanzen zusammen die Gemeinschaftsflächen. „Wir sind zwar ein Verein, haben aber ein anderes Konzept als ein Kleingartenverein“, sagt Vorstandsmitglied Elisa Bienzle.
Grundgedanke war die Selbsversorgung
Dass ein anderes Konzept hinter dem Projekt steht, wird beim Besuch der Anlage sofort klar: Die Beete sind nicht eingezäunt, haben nur Nummern, damit jeder seine Parzelle findet. Die, die mitmachen, haben einen ganz unterschiedlichen Hintergrund: Familien sind dabei, Menschen mit Migrationshintergrund gärtnern mit, Rentner, Studenten, Berufstätige und die Kindertagesstätte Rosenstein. Auf dessen Fläche brummt und summt es. Die Kinder haben mit Erfolg Wildblumen für Bienen und Schmetterlinge gesät.
„Der Grundgedanke beim Start des Stadtackers war, dass die Brachfläche für die Selbstversorgung genutzt werden soll“, sagt Bienzle. Die 37-jährige Agraringenieurin ist auf das Projekt gestoßen, weil ihr der Balkon im Stuttgarter Westen zu klein geworden war und sie nach einer größeren Fläche gesucht hat. Doch das Projekt bietet viel mehr Möglichkeiten als nur selbst angebautes Gemüse zu genießen: „Es bietet die Chance, eigenverantwortlich etwas zu gestalten und kreativ zu sein, und es bringt über das gemeinsame Interesse die unterschiedlichsten Menschen einander näher“, sagt Martin Abelmann. Der 38-Jährige hat den Studiengang Erd- und Klimasystem an der Universität Hohenheim belegt. Anne Schubert (36) ist Sonderschulpädagogin, und Christian Schmid (28) Ingenieur. Schmid und Schubert haben außer ihren Gemüsebeeten auch Bienenstöcke auf dem Stadtacker. 18,5 Kilo Honig hat Schmid in diesem Jahr geerntet. Schubert erntet erst im kommenden Jahr, weil ihr Bienenvolk zu jung ist. „Es muss in diesem Jahr noch für sich selbst sorgen“, sagt sie.
Die Preise gab es für die „Stadtackerer“ unter anderem vom Verschönerungsverein – und zwar gleich zwei mal. Im Frühjahr dieses Jahr wurde der Stadtacker als offizielles Projekt der UN-Dekade Biologische Vielfalt ausgezeichnet und gleich nach dem Start bekam das Projekt den 1. Preis bei dem städtischen Wettbewerb „Action Gardening“. Trotz der Erfolge plagen den Verein Sorgen, weil dem Stadtacker für das Gelände wegen der Planung fürs neue Rosensteinquartier nur eine Zwischennutzung eingeräumt wurde. Bienzle und ihre Mitstreiter träumen davon, das Gelände unbefristet nutzen zu dürfen. „Wenn hier der neu Stadtteil entsteht, bietet der Stadtacker den Menschen doch auch die Chance, hier etwa gemeinsam zu gestalten und Einfluss zu nehmen, und er ist identitätsstiftend “, stellt Bienzle fest – und sie geht noch einen Schritt weiter und wünscht sich, dass es für das Projekt einen Geldtopf gibt, aus dem ein Mitarbeiter finanziert werden kann. Zwar organisieren die Mitglieder schon vieles wie Veranstaltungen und Workshops. Mit einem Festangestellten könnte aber noch sehr viel mehr auf die Beine gestellt werden, sind sie überzeugt.
Wer auf dem Stadtacker mitgärtnern will, muss nicht Vereinsmitglied werden, aber persönlich vorbeikommen und Interesse bekunden. „Nur eine Mail zu schicken, das reicht nicht“, sagt Abelmann.