27. Januar 2015 , Taz
Was treibt der Nachwuchs? Er tut sich schwer mit dem Risiko. Richtig jung ist er auch nicht mehr. Eindrücke vom 36. Filmfestival Max Ophüls Preis
Helge Schneider sitzt und wartet. Eine typische Interviewsituation vor der Kamera: Es dauert eine kleine Ewigkeit, bis Bild und Ton eingerichtet sind und die Filmemacherin ihre erste Frage stellt. Sie will etwas über die Freiheit des Komikers wissen: „Freiheit ist nichts, was man hat, die muss man sich nehmen“, sagt Schneider, lächelt, steht auf und geht. Gleich am Anfang von Andrea Roggons wunderbarem Dokumentarfilm „Mülheim-Texas. Helge Schneider hier und dort“ steht also ein Scheitern – aber eines, das vielsagender ist als viele professionell „gelungene“ Interviews. Die Intelligenz, Improvisationsgabe und den Humor Schneiders bringt diese kurze Szene ebenso auf den Punkt wie den Film selbst, der von Anfang an und ohne Scheu immer wieder eingesteht, dass das Multitalent aus Mülheim an der Ruhr letztlich undurchdringbar bleiben wird.
Nehmt euch mehr Freiheiten! Scheitert mehr! – das hätte man auch manchen Regisseurinnen und Regisseuren der Spielfilme bei diesem 36. Filmfestival Max Ophüls Preis gerne zugerufen. Denn immer dann, wenn in Filmen Risiken eingegangen wurden – etwa improvisiert oder mit Laiendarstellern gearbeitet wurde -, lüftete sich der drückende Deckel des professionell Gemachten und Gutgemeinten, der besonders auf dem deutschen Film zu liegen scheint. Eine Bleiernheit, die selbst beim in Saarbrücken präsentierten Nachwuchs deutlich zu spüren war – zugelassen wird beim Festival höchstens der dritte Langfilm eines Regisseurs. Hier stellen also Filmemacher ihre Werke vor, die quasi „von Natur aus“ für frischen Wind sorgen sollten.
Das schreibt sich natürlich leicht. Die harte Realität enthüllt der Festivalkatalog: Viele der im Wettbewerb vertretenen Regisseure stehen kurz vor ihrem 40. Geburtstag oder haben ihn sogar schon deutlich hinter sich gelassen. Nachwuchs und Jugend können also in der deutschsprachigen Filmbranche kaum synonym verwendet werden. Zu langwierig ist es, ein einziges Projekt zu realisieren. Der immense Konkurrenzdruck erzeugt ein System der Angst, in dem jeder Film zum Endspiel wird, weil er der letzte sein könnte. Da hat es Helge Schneider einfacher, dessen Improvisationskunst aus der Erfahrung und Sicherheit unzähliger Auftritte zehren kann.
„Ein Endspiel“ heißt das Langfilmdebüt von Lilli Thalgott (Jahrgang 1975), das trotz des Titels ein Gegenmodell entwirft. Ihre Beziehungskomödie über ein Paar, das ausgerechnet während des Endspiels der Fußball-WM eine schwere Krise durchlebt, wurde komplett von den Darstellern improvisiert. Das Ergebnis ist kein großes Kino, aber einer der lustigsten und lebendigsten deutschen Filme der letzten Jahre. Der Erfolg basiert auf viel Übung: Die Regisseurin arbeitete zusammen mit Darstellern der erfahrenen Improvisationstheatertruppe Hidden Shakespeare aus Hamburg.
Auf professionelle Schauspieler verzichtet hat dagegen Thomas Woschitz (Jahrgang 1968) in „Bad Luck“. Der Österreicher erzählt die Geschichten dreier Verzweifelter, die in der Kärntner Provinz dem Glück – das heißt: dem Geld – hinterherjagen, nur um noch tiefer zu fallen. Wie hier das Schicksal böse Scherze spielt, erinnert an die Filme der Coen-Brüder. Doch wo bei den Amerikanern bisweilen eine distanziert-zynische Weltsicht der Empathie mit ihren Figuren im Wege steht, erhebt sich Woschitz nie über seine Protagonisten. Seine Laiendarsteller zeichnet bei aller harten Schale eine Verletzlichkeit aus, die kaum ein Schauspielprofi so glaubwürdig verkörpern könnte.
Auf Hauptdarsteller mit keiner oder sehr wenig Schauspielerfahrung hat sich auch der Schweizer Simon Jaquemet (Jahrgang 1978) in seinem Debütfilm „Chrieg“ mit Gewinn verlassen. Er erzählt von einem orientierungslosen Jugendlichen, der von seinen Eltern auf eine Alpenalm verbannt wird, um dort Manieren zu lernen. Überraschenderweise findet er dort aber keine als Erlebniscamp getarnte Besserungsanstalt vor, sondern eine Art nihilistisches Utopia, in dem die Erziehungsberechtigten keine Macht mehr haben. Von hoch oben beginnt ein Feldzug gegen die Erwachsenenwelt, der immer mehr ins Chaos abdriftet. „Herr der Fliegen“ und „Clockwork Orange“ grüßen von Ferne, und doch ist „Chrieg“ sehr eigenständig in seiner Mischung aus typisch schweizerischen Themen (die Freiheit in den Bergen) und einer Mischung aus Realismus und Märchenhaftigkeit. Dafür wurde Jaquemet am Samstagabend verdientermaßen mit dem Hauptpreis des Festivals ausgezeichnet.
Ein System der Angst, in dem jeder Film zum Endspiel wird, weil er der letzte sein könnte