26. November 2014 , Kontext Wochenzeitung
Ein ominöses Brandschutzgutachten sorgt für Empörung: Während der Veranstaltungen des Kulturbetriebs sollen die Künstler ihre Ateliers in den Wagenhallen räumen. Nun haben sie ein Konzept erarbeitet – als Grundlage für Verhandlungen mit der Stadt und dem Kulturbetrieb.
Zum ersten Mal hochgekocht ist die Diskussion Ende Oktober. Intern war seit Sommer 2014 bekannt, dass das Hochbauamt ein Brandschutzgutachten in Auftrag gegeben hatte. Beim selben Büro, das im Frühjahr 2013 den Fernsehturm untersucht hatte. Im Nachhinein will es keiner gewesen sein. Denn wenn schon eine Stahlbetonkonstruktion als nicht feuerfest eingestuft wird: wie hätte da ein alter Bahnschuppen die Bestimmungen erfüllen können? Um eine sofortige Schließung zu verhindern, wurde das Thema vertraulich behandelt. Dann aber hieß es, dem Kunstverein bleibe keine Wahl, als einem „Kompromiss“ zuzustimmen: Während der Veranstaltungen des Kulturbetriebs müssen die Künstler ihre Ateliers räumen. Vom Damoklesschwert einer kompletten Schließung bedroht, stimmte der Vereinsvorstand zu. Doch die Künstler, die ihre Ateliers in den Hallen haben, konnten diesen Kompromiss, zu dem sie nie gefragt worden waren, nicht einfach hinnehmen. Rund 200 Veranstaltungen finden jährlich in der Halle statt. Nach der bisherigen Regelung soll der Kulturbetrieb Wagenhallen den Veranstaltungsort bis zu zehn Prozent der Zeit nutzen können: Das sind 876 Stunden im Jahr oder knapp zweieinhalb Stunden pro Tag. Naturgemäß handelt es sich vorwiegend um die Abendstunden. Aber auch Künstler arbeiten nicht immer nur tagsüber und gehen dann nachmittags nach Hause.
„Wir haben alle unsere Verpflichtungen“, sagt Lukasz Lendzinski und widerspricht damit dem Klischee des Künstler-Bohemiens: „Verträge, die eingehalten werden müssen.“ Der Architekt betreibt mit seinem Partner Peter Weigand das Büro „umschichten“, in dem derzeit, drei Praktikanten eingerechnet, sechs Personen arbeiten. Sie entwerfen keine Neubauten, sondern arbeiten an der Transformation des Bestehenden. 2008 erstellten sie neben den Wagenhallen eine 600 Quadratmeter große, gelbe Plattform mit Swimmingpool, als Podium für Diskussionen und Zwischennutzung. 2010 gewannen sie den ersten Preis des Spontan-Architektur-Festivals „72 Hour Urban Action“ der Bat-Yam-Biennale in Israel. 2012 kam das Festival nach Stuttgart.
Aus 750 Bewerbern wurden zehn Teams gebildet, die innerhalb von 72 Stunden in beiden Hälften des Nordbahnhofviertels – dem Inneren Nordbahnhof um die Wagenhallen und dem Wohngebiet jenseits der Nordbahnhofstraße – bestimmte Aufgaben lösen mussten. 2014 waren Weigand und Lendzinski unter anderem mit der Installation und Mitmachaktion „Opelation“ anlässlich der Schließung des dortigen Opel-Werks am Bochumer Festival „This Is Not Detroit“ beteiligt. 70 bis 80 Künstler, je nach Zählweise, arbeiten auf dem Wagenhallenareal einschließlich der beiden Nebengebäude und der zehn verbliebenen Eisenbahnwaggons. Viele sind Absolventen der Stuttgarter Kunstakademie. Lisa Biedlingmaier stellt derzeit im georgischen Nationalmuseum in Tiflis aus. Susa Reinhardt ist in der aktuellen Ausstellung der Daimler-Kunstsammlung in der Möhringer Firmenzentrale vertreten. Robert Steng hat es bereits in die Sammlung des Stuttgarter Kunstmuseums geschafft, Thomas Putze in die der Staatsgalerie. Pia Maria Martin und Gabriele Oberkofler hatten im vergangenen Jahr Einzelausstellungen in Saarbrücken, Erstere erhielt 2013 auch den Kulturförderpreis der Baden-Württemberg Stiftung und ist seit Kurzem Professorin für Videokunst in der Villa Arson in Nizza.
Auch andere Kunstrichtungen sind vertreten. Hier probt das O-Team, eine siebenköpfige Theatertruppe, die in diesem Jahr schon zwei Produktionen im Theater Rampe auf die Bühne gestellt hat. Der Dramaturg Jonas Zipf, neuerdings Schauspieldirektor des Darmstädter Staatstheaters, ist 2007 mit der großen Produktion „Hermannschlachten“ bekannt geworden, die das Wagenhallenareal selbstironisch als „Teutoburg“ inszenierte, umgeben von Römern in Analogie zu einem kleinen gallischen Dorf. Moritz Finkbeiner hat die Konzerte des Vereins „Für Flüssigkeiten und Schwingungen“ vom Eisenbahnwagen in die „Rakete“ im Theater Rampe verlegt. Doch er ist auch selbst Musiker und muss proben, ebenso wie Levin Stadler, der auch als Grafikdesigner arbeitet, aber als Musiker unter dem Namen „Levin Goes Lightly“ im Moment ziemlich gefragt ist.
Künstler brauchen die Hallen als Arbeitsraum, stellen jedoch anderswo aus. So kommt es, dass wenig bekannt ist, was auf dem Gelände alles entsteht. Manche wie Sylvia Winkler und Stephan Köperl sind weltweit unterwegs. Allein in diesem Jahr waren sie mehrere Monate in Indonesien und an Ausstellungen in Hongkong, Bukarest, Brünn, Taipei und Incheon in Südkorea beteiligt. Robin Bischoff, neuerdings einer der aktivsten im Vorstand des Vereins, ist derzeit nicht zu sprechen. Er ist mit der Künstlerin Anja Koch in Südafrika unterwegs. Schon bevor jetzt die angespannte Situation entstand, haben sich beide Gedanken um die Zukunft des Geländes gemacht. Um vermehrt an die Öffentlichkeit zu treten, wurde im Juli der Bereich vor den Toren zum „Kunstboulevard“ deklariert, eröffnet von Birgit Schneider-Bönninger, der Leiterin des Kulturamts. Als Nächstes plant die sechsköpfige „Arbeitszelle Zukunft“ (AZZ) eine „Future Box“, bestehend aus zwei übereinandergetürmten roten Containern, die, ein wenig in der Tradition der Infobox am Potsdamer Platz in Berlin, über Baugeschehen und künstlerische Aktivitäten informieren, aber auch als Ausweichquartier dienen soll.
Anja Koch hat derweil ein Zukunftskonzept entwickelt, das nun als Grundlage für die Verhandlungen mit der Stadt und dem Kulturbetrieb dienen kann. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass Künstler zumeist Tageslicht benötigen, ihre Ateliers also an den Außenwänden der Hallen angeordnet sein sollten, während sich der Veranstaltungssaal als große zusammenhängende Fläche auch im Inneren befinden kann. Die Ateliers sollen vom Kunstverein verwaltet und vermietet werden. Um die unterschiedlichen Bedürfnisse der Nutzer in die Planung einbeziehen zu können, ist ein regelmäßiger Austausch nötig. Stärker als bisher sind dabei auch die Künstler gefordert, sich zu organisieren, nach außen zu treten und verlässliche Ansprechpartner zu stellen. Mit der Neuorganisation des Vereins, der Zukunftsbox und der Arbeitszelle ist dieser Prozess schon ein gutes Stück vorangekommen. Was fehlt, ist ein Raum. Der einzige etwas größere Raum, der den Künstlern als Versammlungs- und Ausstellungsraum dienen kann, durfte auch bisher nur eingeschränkt genutzt werden. Daneben gibt es nur noch die kleine Galerie „Hausgeburt“ in einem der Nebengebäude.
„Die Wagenhallen als sozialer Marktplatz im neuen Rosensteinviertel“: Auch dies steht in Kochs Papier als Zielsetzung. In der Tat hat das bestehende Nordbahnhofviertel kein Zentrum. Die Wagenhallen als Kulturstandort mit den beiden Standbeinen Produktion und Veranstaltungen könnte diese Funktion übernehmen. Nötig wäre ein ausreichend großer, öffentlich zugänglicher Raum. Wenn sich Wohnquartier und Kulturareal aufeinanderzubewegen, hilft dies allen Beteiligten. Mit der 72 Hour Urban Action wurde ein Anfang gemacht. Von den damals erstellten, zumeist hölzernen Konstruktionen auf den Straßen und Schulhöfen, in den Hofdurchgängen und Hinterhöfen des Viertels ist zwar wenig geblieben. Aber die Kontakte sind geknüpft.
In einem neuen Projekt, das bereits weite Kreise gezogen hat, wollen die Architekten Lukas Lendzinski und Peter Weigand hier anknüpfen. Es begann mit einem Austausch. Im Dezember 2013 besuchten Lendzinski, Weigand, Winkler und Köperl das Israeli Center for Digital Art in Holon, das einen ähnlichen Dialog mit dem benachbarten Viertel Jessy Cohen Neighbourhood pflegt. Im Frühjahr 2014 folgte ein Gegenbesuch. Seither wurde das Gespräch online fortgesetzt. Geplant ist, im kommenden Jahr nacheinander an drei Orten des Quartiers einen Container aufzustellen, der als Treffpunkt, Ort des Austauschs und der Entwicklung künstlerischer Ideen für das Wohnviertel dienen soll.
Dies alles war bereits geplant, als die „Stuttgarter Zeitung“ am 17. November titelte: „Die Wagenhallen stehen auf der Kippe.“ Ohne Angabe von Quellen hieß es, für die vom Gemeinderat mit großer Mehrheit beschlossene, aber entgegen den Plänen noch gar nicht begonnene Sanierung der Hallen reichten die bewilligten 5,5 Millionen Euro nicht aus: 20 bis 25 seien nötig. Gesprochen hatten die beiden Journalisten mit dem CDU-Stadtrat Jürgen Sauer, Bürgermeister Michael Föll, Stefan Mellmann und Thorsten Gutbrod vom Kulturbetrieb Wagenhalle sowie einem „Kenner der Materie, der angesichts der angespannten Situation anonym bleiben will“. Künstler kamen nicht zu Wort, wurden aber für die Misere verantwortlich gemacht.
Die Reaktion kam prompt: Noch am selben Tag verfassten die Leiter einiger der wichtigsten Kulturinstitutionen der Stadt – Kunstmuseum, Kunstakademie, Theater Rampe und diverse andere – einen Brief an den Oberbürgermeister. Die Kulturbürgermeisterin Susanne Eisenmann bekannte, sie halte eine Schließung für „völlig undenkbar“ und ein „kulturpolitisches Desaster“. Auch der Kunstverein Wagenhalle bezog Stellung. Am vergangenen Freitag trafen sich seine Vertreter mit den kulturpolitischen Sprechern der Gemeinderatsfraktionen. Das Ergebnis: Alle Parteien halten am „Zwei-Säulen-Modell“ fest, das bedeutet, die Wagenhalle wird weiterhin zu gleichen Teilen von Künstlern und Kulturbetrieb genutzt. Unternehmer Jürgen Karle, der die Wagenhalle von der Stadt gemietet hat und an Künstler und Kulturbetrieb weitervermietet, stiftet sechs Container. Beabsichtigt ist – so die Formulierung, die allen Beteiligten erlaubt, das Gesicht zu wahren – die „Weiterentwicklung des bestehenden Kompromisses.“ Die Gespräche haben begonnen. Für den 4. Dezember 2014 ist eine Pressekonferenz im Württembergischen Kunstverein geplant.