24. Februar 2015 , Stuttgarter-Zeitung
Wer sind die Künstler, die in den Stuttgarter Wagenhallen arbeiten? Erfolgreiche Theaterleute, Musiker und Architekten. Wie es um ihre Zukunft dort steht, erscheint angesichts der Diskussion über die Sanierungskosten des Areals ungewiss.
Ortstermin an den Stuttgarter Wagenhallen. Wer sind die Künstler, die hier seit gut zehn Jahren ihre Ateliers haben? Wie arbeiten sie? Wie kommen sie mit den Brandschutzbestimmungen zurecht, die neuerdings ihre Arbeit einschränken? Wie mit der ungewissen Zukunft des Areals überhaupt? Michi Meier schneidet gerade seine Videoaufzeichnung vom Eclat-Eröffnungskonzert: eine mit großem Applaus aufgenommene, kurzweilige Oper ohne Operngesang des jungen dänischen Komponisten Simon Steen-Andersen. Viel Geld ist damit nicht verdient. Weder Komponist noch Veranstalter haben dafür einen Etat. Und doch kann so ein Video Türen öffnen, denn die ungewöhnliche Aufführung lässt sich mit Worten kaum beschreiben. Meiers Räume befinden sich in der oberen Etage des Bürotrakts: eigentlich ein Anbau, durch die Außenmauer der Wagenhalle von dieser getrennt. Unter ihm hat Markus Birkle, der Gitarrist der Fantastischen Vier, ein Aufnahmestudio. Es braucht viel Fantasie, sich vorzustellen, dass die Leute, die hier arbeiten, bei einem Brand in den Räumlichkeiten des Kulturbetriebs, mehr als hundert Meter weit weg ganz am anderen Ende der Halle, nicht rechtzeitig ins Freie kämen – und umgekehrt. Doch weil die Brandschutzbestimmung genau dies verlangt, müssen Birkle und seine Mitarbeiter nun während der Veranstaltungen ihre Räume verlassen und mit ihnen zwanzig weitere Künstler im Bürotrakt.
Viele Künstler sind gerade gar nicht da. Pia Maria Martin nimmt eine Professur an der Villa Arson in Nizza wahr. Die Künstlerin Gabriela Oberkofler, die sich mit Fragen der Identität auseinandersetzt, weilt in ihrer Heimat Südtirol. Der Bildhauer Stefan Bombaci hat ein Stipendium in Wien. Antje Töpfer zeigt ihr Figurentheater in Krakau. Andrea Roggon, die für ihren Film über Helge Schneider soeben mit dem Max-Ophüls-Preis ausgezeichnet wurde, ist noch in Berlin. Aber auch so herrscht genug Leben. Nina Malotta und Samuel Hof vom O-Team sind gerade aus München zurück, wo die neun Vorführungen ihres Stücks „Corporate Bohème“, bei dem es keine Zuschauer, nur Mitwirkende gibt, schnell ausverkauft waren. Am Freitag findet die Premiere in Stuttgart statt, eine etwas andere Version des Stücks „an einem geheimen Ort“. Das O-Team ist aus dem Projekt „Hermannschlachten“ hervorgegangen, aufgeführt 2007 an den Wagenhallen. Der Dramaturg Jonas Zipf ist inzwischen allerdings kaum noch da, seit er im vergangenen Jahr Intendant des Darmstädter Staatstheaters geworden ist. Wolfart Hähnel ist – für ihn eher untypisch – mit einer Auftragsarbeit für eine Nestroy-Aufführung an einem kleinen Theater bei Ulm beschäftigt. Zu Beginn der Vorstellung rollt ein Papagei auf einem Seil über die Zuschauerreihen hinweg und schlägt mit den Flügeln. Hähnel macht nicht viel Aufhebens davon, dass er einmal Professor der Stuttgarter Kunstakademie war. Er fühlt sich hier wohl und kann sich nicht vorstellen, irgendwo anders zu arbeiten. Moritz Junkermann schweißt an dreidimensionalen Graffiti. Hannes Schwertfeger und Oliver Storz vom Bureau Baubotanik sind gerade dabei, ihr Atelier umzuräumen, deshalb gibt es nicht viel zu sehen. Ein Modell zeigt ihre Konstruktionen im Projekt Zweistromland zwischen Lippe und Stever, am Nordrand des Ruhrgebiets: eine Plattform und einen Aussichtsturm sowie eine Versuchsreihe mit einer Schulklasse. Baubotanik, das Bauen mit Pflanzen, ist ein ganz neues Gebiet, das Storz und Schwertfeger in den letzten Jahren mit Ferdinand Ludwig an der Stuttgarter Universität entwickelt haben. Das Bureau Baubotanik hat dafür gerade erst die Auszeichnung „Kultur- und Kreativpilot Deutschland“ der Bundesregierung erhalten. Renate Liebel stellt noch bis Freitag in der Galerie Amrei Heyme aus. Ihre bunten Eislöffel- und Pommesgabelbäume begrünen ihr Atelier, in dem wie in jedem anderen ein teurer Rauchmelder hängt. Peter Holls großformatige Aquarelle wiederum sind ab 11. März in der Galerie Rainer Wehr zu sehen. Er arbeitet gerade an der Innenansicht einer Fellbacher Gärtnerei: Olivgrüne Gummistiefel und Jacken reihen sich in der Garderobe. Vier bis fünf Wochen braucht er für so ein Werk nach fotografischen Vorlagen.
Die meisten Künstler haben ihre Ateliers in den Anbauten der Wagenhalle: dem Bürotrakt oder der Lackiererei, einige auch in Containern, die in der Halle stehen. Der Kulturbetrieb wiederum nimmt nur die Westecke ein, hat sich im Lauf der Zeit ein Stück weit in die Halle hineingeschoben und ist, mit schwarzen Moltonbahnen verhängt, noch am ehesten brandgefährdet. Die große Halle selbst darf nur als Lagerfläche genutzt werden. Hier stehen einige der schnittigen, verschlungenen, in die Länge gezogenen Autokarossen und Vespa-Roller von Stefan Rohrer, der gerade nur kurzfristig anwesend ist, bevor er, ausgestattet mit einem ganzjährigen Stipendium von ZF, nach Friedrichshafen zurückkehrt. Ausstellungen hat er im Moment nicht, aber auf der Art Karlsruhe ist er vertreten. Auf sein Atelier in der Wagenhalle zu verzichten ist für Rohrer undenkbar: Wo würde er Platz für seine Karossen finden? Auch Ferdinand Ludwig, der Dritte im Bunde der Baubotaniker, hat sein Büro in den Wagenhallen. Gefördert von der Landesanstalt für Umwelt, Messungen und Naturschutz, arbeitet er bereits an der Zukunft des Areals. Für die am Inneren Nordbahnhof geplante Wohnbebauung entwirft er haushohe Gerüste aus lebenden Bäumen, die in kurzem Abstand, auf allen Etagen begehbar, vor den Fassaden stehen sollen. Solche Baumregale könnten überall im Stuttgarter Talkessel die im Sommer oft stickige Luft verbessern. Der Clou ist das Prinzip der Pflanzenaddition: Neu gesetzte Pflanzen, die im Lauf der Zeit zusammenwachsen, können auf Anhieb so viel Kohlendioxid in Sauerstoff umwandeln und Staub aus der Luft filtern wie sonst nur ausgewachsene Bäume. Eine grüne Utopie, deren Machbarkeit bis hin zu Bauvorschriften und Pflege Ludwig gerade erforscht. Das gibt es bis jetzt nirgendwo anders als in Stuttgart: In den Wagenhallen.