19. Oktober 2014 , Die Stadtisten
… oder warum die Wagenhallen nur als popkulturelles Feigenblatt der Stadt dienen und mit Subkultur längst nicht mehr zu tun haben.
Ein paar Wahrheiten zu den Wagenhallen und ihrem Bezug zur Stuttgarter Subkultur. Zuvor ein paar Bemerkungen: Ich rekonstruiere das hier aus dem Gedächtnis. Ich werde nur begrenzt Namen der beteiligten Akteure aus Politik und Kultur nennen. Desweiteren versuche ich eine Entwicklung chronologisch zu schildern, ohne die Ereignisse zu sehr zu werten. Wobei ich nicht den Anspruch von Objektivität erhebe, bin ich doch noch immer zu sehr subjektiv mit diesem Millieu verknüpft. Das vermag der geneigte Leser selbst zu tun. Vielleicht noch kurz eine Erklärung zu meinen Quellen: Ich habe von 1998 bis 2006 selbst aktiv als Booker und Veranstalter im Stuttgarter Popkultur-Bereich gearbeitet und in der Zeit ein weitreichendes Netzwerk geknüpft, das zwar im gesamten mittlerweile zerrissen, aber in einzelnen Verknüpfungen noch immer existent ist. Auch als Produktions-Assistent für diverse Stuttgarter Orchester stehe ich natürlich immer noch im lockeren Kontakt zum Beispiel mit Leuten aus dem Theaterhaus, dem württembergischen Kunstverein und einer Vielzahl von Leuten, die als freie Tontechniker, PA-Verleiher, Visuals-Macher oder als (pop)kulturelle Veranstalter in diesem Millieu tätig sind. Ein guter Freund arbeitet als Koch und Caterer in den Wagenhallen, ein anderer gehört zum Umfeld der Geschäftsführung, andere waren oder sind Mitglieder des Kunst- und Kulturvereins aus dem die heutige Wagenhalle hervorgegangen ist.
Es war einmal …
… eine alte Fabrikhalle im Stuttgarter Norden, eine Gruppe mehr oder weniger professioneller Künstler und Kulturschaffender, die sich zu einem Verein zusammengeschlossen hatten und auf einem Teil-Areal dieses Geländes Ateliers, Proberäume und Kreativ-Räume unterhielten und Teile dieser Halle bespielten. Der weitaus größere Teil der Halle war damals noch in der Hand eines Unternehmers, der dort regelmäßig Flo- und Antikmärkte veranstaltete. Damals war das alles Subkultur: der bauliche Zustand erbärmlich, Sanitäranlagen nur rudimentär vorhanden und der ganze Charakter der Szenerie geprägt von einem charmanten, aber oft auch chaotischen (man könnte es auch unprofessionell nennen) Spirit aus Kreativität, Idealismus, Improvisation und wilder Lust, etwas zu machen und einfach anders zu sein. Die Mitglieder des Vereins waren ein wildes Sammelsurium aus kauzigen, witzigen, professionellen und völlig chaotischen Individuen. Es gab Leute, die ernsthaft am Fundament ihrer künstlerischen Karriere arbeiteten und völlig verstrahlte, dauerkiffende Existenzialisten, die aus Industrieschrott Skultpuren schweißten oder nerdige und sperrige Kunst oder Antikunst fabrizierten, deren, ähm, kommerzieller Mehrwert gleich null tendierte, aber immer wieder bemerkenswert kluge oder auch streitlustige Interpretationen des allgemeinen Zeitgeistes beziehungsweise der speziellen Stuttgarter Gemengelage darstellte.
Wollte man als Gastveranstalter dort etwas auf die Beine stellen, sah man sich dem Vereinsplenum gegenüber, das stets einstimmig zu entscheiden suchte. Das war immer anstrengend, oft entnervend und hin und wieder auch ärgerlich, wenn ein notorischer Querschießer mal wieder alles in Frage stellte und man mit Engelszungen stundenlang Überzeugungsarbeit leisten musste. Aber alles in allem bot diese abgefuckte Halle großen Teilen der Stuttgarter Subkultur ein zwar baufälliges, aber doch willkommenes Heim.
Von nerdigen Elektro-Tanzpartys (die viel zu schräg waren, um in einem der Stuttgarter Clubs Heimat zu finden) über derbe Drum-and-Bass-Raves (die viel zu hart waren, um in einem der Stuttgarter Clubs Heimat zu finden) bis zu experimentellen Konzerten oder wüsten Punkrock-Sausen (die viel zu ausgeflippt oder „böse“ waren, um in einem der Stuttgarter Clubs Heimat zu finden) war prinzipiell alles möglich. Je nachdem wie professionell oder engagiert die Veranstalter waren, war dann auch das Umfeld und der Charakter der Veranstaltung. Von tollen Hardcore-Konzerten mit professioneller PA bis zu verkifften Reggae-Parties oder völlig dilletantisch organisierten Schräg-Tanzabenden mit besserer Heim-Stereoanlage ging alles. Securities? – Brauchte man nicht. Toiletten? – Wer pissen wollte, ging in die Büsche, für die Mädels gab es ein paar Plumpsklos. Feuerpolizeiliche Sicherheit? – Ähm, nächstes Thema …
Ein seltenes Biotop der Stuttgarter Subkultur: sperrig, spröde, streitlustig, aber eben auch charmant, total chaotisch, sehr idealistisch und mit viel Phantasie und Mut zur Improvisation – immer wieder neu, verändert und spaßig. Mal standen plötzlich auf dem Außenareal irgendwelche sperrigen Skulpturen, mal hatte irgend jemand aus drei kaputten Bass-Subs wieder einen neuen gelötet. Die Polizei ignorierte das weit abgelegene Areal und man genoss mehr oder weniger Narrenfreiheit. Mit den benachbarten Waggons; der Redaktion des Magazins Partysan, die zusammen mit einem Stuttgarter Elektro-Plattenlabel, einem europaweit bekannten Produzenten von House-Musik (Michel Baumann alias Soulphiction, der unter anderem für Fanta Vier arbeitete) und der bekannten Elektroband Rework (die es zu zwei europaweiten Indie-Dance-Hits brachte) und dem (damals noch völlig unbekannten) Modelabel Blutsgeschwister in einem um die Ecke liegenden verrotteten Industriebau hausten, in dem auch einige Punkbands probten und dem Atelier Unsichtbar gab es lustige Kooperationen und genügend Leben, damit Besucher am Wochenende auch mal herumpilgern konnten und zwischen vier oder fünf mehr oder weniger legalen Parties beziehungsweise Konzerten die Auswahl hatten.
So weit so gut … Subkultur in Reinform. Auch Filmdrehs fanden in diesem Bermudadreieck zwischen Wagenhallen, Waggons am Nordbahnhof, Atelier Unsichtbar und dem Partysan-Haus immer wieder statt. Ohne (!) Zuschüsse oder Gelder der Stadt, bis auf die Möglichkeit das Areal frei zu nutzen. Alles war chaotisch, total improvisiert, oft am Rande des Legalen, aber es ballte sich Kreativität und es gab bemerkenswerte Synergieeffekte zwischen den beteiligten Parteien.
Parteien, genau. Aufgrund einer Verkettung von Umständen, die zu schildern mir hier der Platz nicht reicht, begann sich dann die Stadt Stuttgart, die mal wieder in der Kritik stand, Pop-und Subkultur zu schleifen, für die Wagenhallen zu interessieren. Die Politik brauchte dringend etwas vorzuweisen gegenüber der Szene und auch nach außen hin, da das Medienecho nicht günstig war. In den Fokus der Politik gerieten zwei Objekte: das alte Interims-Rathaus (ehemalige DB-Direktion) am Arnulf-Klett-Platz und die Wagenhallen. Einige der Protagonisten der Szene auf dem alten Nordbahnhofgelände zogen in die DB-Direktion um, da abzusehen war, dass ihr Ort S21 zum Opfer fallen würden. Was dann am Arnulf-Klett-Platz so alles passierte wäre auch einmal einer eigenen Betrachtung wert, muss hier aber aus Platzgründen entfallen.
Zurück zur Wagenhalle. Die sehr engagierte Kulturbürgermeisterin Eisenmann ließ sich immer öfter mit einer Gefolgschaft Politikschaffender sehen, es wurde viel diskutiert und innerhalb des Kulturvereins bildeten sich zwei Fronten: die einen, die strikt gegen jede Einflussnahme von Politik waren und das – wie sie es nannten – antikommerzielle Flair erhalten wollten, und die anderen, die die Halle professionalisieren und aufwerten wollten. Erstere Fraktion bestand eher aus den verstrahlten, chaotischen Nerds und Existenzialisten, zweitere aus ernsthaft ambitionierten Künstlern, die sich und ihr Umfeld professionalisieren wollten und auch auf Subventionen für das ein oder andere Projekt, das bislang nur in DIN A4 Exposees existierte, hofften.
Ich mache es kurz: nach kurzem aber sehr heftigen Kampf, der mit allen Mitteln von Intrigen, Diffamierung und Unter-der-Gürtellinie-Ressentiments ablief, setzte sich die Professionalisierungs-Fraktion durch. Das Ergebnis: durch Vermittlung von Frau Eisenmann wurde auch der Teil der Halle, in dem Flomärkte abliefen, teilweise dem Wagenhallen-Areal zugeschlagen. Der Kulturverein wurde de facto entmachtet, es wurden Geschäftsführer installiert. Einer davon, Thorsten Gutbrod, arbeitete bis dahin für Xavier (Zapata und Bett): als Geschäftsführer und Booker für dessen kommerziell betriebenen Club Bett im Filmhaus. Ein sehr professioneller Mann, der die Branche in allen ihren Spielarten kennt, der aber mit Subkultur im Sinne der eingangs beschriebenen Szenerie nichts zu tun hat. Er und ein Kollege übernahmen die Regie. Ihre erste Priorität: effizientere Strukturen, bessere und in einer Hand liegende Öffentlichkeitsarbeit, Sanierung der Bausubstanz und Requirieren von Geldern aus Politik, aber auch mit in Eigeninitiative betriebenen wirtschaftlichen Konzepten.
Wieder muss ich es kurz machen: nach einem mehrere Jahre dauernden Prozess schafften die beiden umtriebigen Geschäftsführer es, die Halle zu einer Art Event-Gastroprojekt zu machen, indem eben nicht nur immer weniger Popkonzerte statt fanden, sondern eine Vielzahl von Geld bringenden Veranstaltungen wie Hochzeiten, Betriebsfesten für Versicherungskonzerne oder andere Wirtschaftsunternehmen, im Vorfeld buchbaren kulinarischen Events, wie den monatlichen Vier-Gänge-Menüs, bei denen man für 100 Euro erlesene Menüs von Koch Martin zu exzellenten Weinen genießen konnte. Anstatt schräge Elektrotanz-Abende für Nerds und Drum-and-Bass-Raves gab es Firmencaterings und auch diverse kommerzielle Parties wie Feuerwerk-Abende, gesponsort von einem großen Zigarettenhersteller, und allerlei anderen Schnickschnack.
Allein: das veranstalten von Pop- oder Subkultur-Events geriet ein wenig aufs Abstellgleis. Zuerst zeigte sich das in einer immer liebloseren Abwicklung von solchen Veranstaltungen. Unrühmlicher Höhepunkt war ein Konzert der in Stuttgart sehr erfolgreichen Subkultur-Crew „Stuttgart kaputt raven“ mit der Schweizer Elektropunk-Band „Saalschutz“, in deren Verlauf die rüpeligen Securitys der Fremdfirma SHS die Bühne erklommen und während des Konzerts (sic!) gegen die ihrer Meinung nach zu enthusiastisch abgehenden Musiker, ähm, „vorgingen“ und sich auch einzelne Leuten aus dem Publikum griffen. Es kam zu sehr unschönen Szenen. Die Besucher waren empört, die Veranstalter auch. Ab da fand „Stuttgart kaputt raven“ im Rocker 33 beziehungsweise dem Kellerklub statt. Auch Gastveranstalter aus dem Punk-Umfeld konnten ein Lied von diesen SHS-Securitys singen. Ein Konzert der aus Los Angeles kommenden Ska-Band Aggrolites ging nur deshalb im Sinne der Band über die Bühne, weil die Gruppe und ihre Crew (allesamt in irgendwelchen L.A. Streetgangs sozialisiert und sehr „kampferprobt“) den Securitys handgreiflich klar machten, wer im Haus an diesem Abend das Sagen hat. Dazu kam, dass es plötzlich bei D’n’B Partys Limiter in der PA gab, die verhinderten, dass die Bässe den Wumms hatten, den die Crowd für eine anständige Party braucht. Es gibt da noch unzählige andere Geschichten. Aber wir wollen es ja kurz halten.
Heute ist die Ausgangslage folgende: neben den obligatorischen Bucovina-Club-Abenden finden in der Wagenhalle monatlich vier bis fünf popkulturelle Events statt. Der Rest sind Hochzeiten, 4-Gänge-Menüs, Betriebs-Feste, Kongresse und von Zigaretten-Herstellern oder ähnlichen Firmen gesponsorte Events, die vorfinanziert sind und deswegen in der Abwicklung kaum Geld kosten. Dazwischen dann hin und wieder ein braver Tanzabend, mit lärmreduzierter PA und einer Stimmung und einem Klientel, wie bei einem beliebigen Uni-Ball. Alles wirklich alles, aber KEINE Subkultur. Die Subkultur trifft sich dort nur noch gelegentlich donnerstags im kleinen Anbau der Halle, wenn Koch Martin und sein Assistent Dusche (beide punksozialisiert) zu ihrem Sauf- und DJ-Abend namens Kleine Kneipe einladen.
Das wäre alles einfach hinzunehmen, der Gang der Dinge, the only constant Thing is Change, wenn, ja wenn nicht die Stadt Stuttgart diese durch und durch auf Effizienz getrimmte und kommerzialisierte Halle (die einigen Leuten Jobs sichert!) andauernd als Vorzeigeprojekt für angeblich erfolgreiche Subkultur hervorzaubern würde. Denn so erfolgreich und toll die Wagenhallen heute sind, eines sind sie sicherlich nicht: Subkultur. Im Gegenteil, die dort einstmals vorhandene Subkultur wurde durch das Geschäftsmodell Wagenhallen verdrängt, vergrault oder aufgesaugt, sprich, selbst kommerzialisiert.
Die Wagenhallen sind quasi das subkulturelle potemkinsche Dorf der Stadt Stuttgart. Das weiß übrigens auch die gesamte (Sub-)Kulturszene der Stadt. Alleine, sie halten den Mund. Zum einen, weil Gutbrod und Konsorten wirklich hervorragend „ihr Ding„ machen und zum anderen, weil man ungern einstigen Kollegen vor die Füße spuckt. Wer heute dort beispielsweise ein Punkkonzert machen will, wird große Mühe haben, zwischen all den Hochzeiten, Weihnachstfeiern und Firmen-Präsentationen einen freien Termin zu finden, der noch dazu in das Routing der tourveranstaltenden Konzertagentur passt.