9. April 2019 , KONTEXT:Wochenzeitung
"Dunkle Materie", die letzte Produktion des O-Teams, konfrontiert den hohen Ton des antiken Dramas mit einer Realität voller Pannen. Nun erhält die an der Stuttgarter Wagenhalle beheimatete Truppe den Tanz- und Theaterpreis der Stadt Stuttgart und des Landes Baden-Württemberg.
„Der Chor der ZuschauerInnen bitte bereitmachen zum Betreten des Saals.“ Die Stimme klingt sachlich, wie eine Durchsage im Kaufhaus. Im Foyer des Theater Rampe warten die Besucher des Stücks „Dunkle Materie“ auf Einlass. Sie haben ein weißes Leintuch angelegt bekommen, sind also nicht unbeteiligt. Plötzlich stürmt laut schreiend ein Mann, ebenso bekleidet, durch die Menge und verschwindet durch die Saaltür. Es ist Ödipus, König von Theben, der sich soeben selbst geblendet hat. Er trägt, wie im antiken Drama üblich, eine Maske: in diesem Fall aus Pappe mit blutunterlaufenen Augen. Wild gestikulierend deklamiert er den Text des Sophokles: „O weh, o weh! Ach, ach, ich Unseliger! Wohin trägt mein Fuß mich, wohin ist die Stimme verweht, wohin hat mich mein Schicksal verschlagen?“ Währenddessen gibt die Inspizientin mit neutraler Stimme Anweisungen: „Ruhe bitte beim Betreten des Zuschauerraumes. Der Chor der ZuschauerInnen begibt sich ruhig auf seine Plätze.“ Vorne sitzt zwischen ionischen Säulenstümpfen die Bühnenbildnerin Nina Malotta und rührt in einem Farbeimer. Hinten produziert Rivkah Tenuiflora alias Rebecca Hennel mit geloopter Elektrogitarre, kleineren Instrumenten und „allerlei Krimskrams“ einen zunehmend infernalischen Soundtrack. Links steht eine prismatische Raumkapsel aus einer früheren Produktion des O-Team, „Raumpatrouille 433“. Hinter der Scheibe sieht man die Inspizientin auf- und abgehen. Wie von der Kanzel eines Krans aus wacht sie über die Bühne. „O Dunkelheit, umfasse diesen Körper!“, ruft Ödipus aus, der seinen Vater getötet und seine Mutter zur Frau genommen hat: „Nie wird der Vorwurf enden.“
„Dunkle Materie“ war das letzte Stück des O-Teams, das vor einiger Zeit sein „zehn- bis zwölfjähriges“ Jubiläum gefeiert hat. Denn so genau weiß niemand, wann es angefangen hat: Vielleicht 2005 mit „Solaris“ nach dem Roman von Stanislav Lem, ein Stück, das die ursprünglich Berlin-basierte Gruppe damals schon an der Stuttgarter Wagenhalle aufgeführt hat. Über die Lokalitäten war Samuel Hof, Bühnenbildner und Regisseur, wegen der Infrastruktur und der Nachbarschaft von Schrotthandel und Künstlern aller Sparten, von Anfang an ganz begeistert: „Man kann hier komplett andere theatrale Möglichkeiten denken.“
Eine Etage Blut- und Spermatheater
Oder vielleicht hat es angefangen mit „HermannSchlachten_07“: einem Großprojekt mit 52 Beteiligten, mangels Förderung alle ehrenamtlich, halb Theater, halb Kunstausstellung. Die Künstler stilisierten sich als wilde Germanen, die wie die Gallier um Asterix der Übermacht des Imperiums Widerstand leisten. Sie problematisierten aber auch den Patriotismus der literarischen Vorlagen von Kleist und weiteren Autoren des 19. Jahrhunderts: „Hermann – the German“, wie die Dramaturgin Anna Rohde-Seyfried im Katalog schreibt.
„HermannSchlachten“ hat die Wagenhalle auf die Landkarte gesetzt: vier Jahre, nachdem dort um die 70 Künstler ihr Atelier bezogen hatten. Man könnte auch mit „Blaupause“ anfangen. Die Premiere fand 2009 in München statt: in einem früheren Redaktionsgebäude der Süddeutschen Zeitung, zur Firmenfeier des Investors, der den Bau erworben hatte und durch Luxuswohnungen ersetzen wollte. Er verlangte, es dürfe kein „Blut- und Spermatheater“ werden. Das hatte zwar niemand vor. Thema war die Geschichte des Redaktionsgebäudes. Aber Vorschriften wollten sie sich auch nicht machen lassen, moniert Antonia Beermann, daher hätten sie dem „Blut- und Spermatheater“ eine ganze Etage gewidmet. Und sie gründeten eine Agentur, um „Stage Marketing“ zu betreiben nach dem Motto: „Wir bringen Ihr Produkt auf die Bretter, die die Welt bedeuten.“ Diese Agentur nannten sie Team Odradek nach der kleinen Erzählung „Die Sorge des Hausvaters“ von Kafka. Da aber der Namen immer falsch geschrieben wurde, heißen sie nun O-Team.
Seit „Blaupause“ arbeitet Beermann – in „Dunkle Materie“ die Inspizientin – als Dramaturgin des O-Teams. Seinerzeit führte noch Jonas Zipf Regie, der um 2010 ans Thalia-Theater nach Hamburg wechselte, später Schauspieldirektor des Darmstädter Staatstheaters wurde und heute der Leiter des städtischen Kulturbetriebs Jena ist. Samuel Hof, ursprünglich der Bühnenbildner, übernahm seitdem die Regie. Nina Malotta, die heutige Bühnenbildnerin, ist seit der Aufführung von „Kirschgärten“, nach Anton Tschechow, 2009 in Darmstadt dabei. Sie ist eigentlich bildende Künstlerin. „Ich dachte, ich bleibe bei meinen Galerien in Köln und London“, erzählt sie, „doch dann hat es mir so gut gefallen bei dieser Gruppe: Jeder kann sich einbringen nach seinen Fähigkeiten – so wie es überhaupt sein sollte im Leben.“ Zum Team gehören auch Markus Niessner, der sich derzeit mehr seiner erfolgreichen Design-Agentur widmet, und Pedro W. Pinto, der die Hälfte seiner Zeit in Braga in Portugal verbringt. Und, ungewöhnlich für eine Theatergruppe, nur ein einziger fester Schauspieler: Folkert Dücker, der vor seinem Schauspielstudium in Stuttgart bereits Arabistik und Islamwissenschaften in Berlin studiert hat.
Auch der Staubsauger gibt den Geist auf
In „Dunkle Materie“ kommt nach ungefähr zehn Minuten der „Chor der Scheinwerferinnen“ zum Einsatz. Von spratzelnden Geräuschen begleitet, projizieren sie orakelhafte Sätze an die Wand: „Die Zeichen, sie mehren sich täglich: Insektenschwund, Dürren und Fluten. Der Klimawandel ist längst schon da. Klar, wir sind technisch schon weiter, aber die Investitionen, die großen, müssen sich erst amortisieren.“ Währenddessen tritt unter der Raumkapsel Schaum aus. Das Stück muss unterbrochen werden. Da auch der Staubsauger den Geist aufgibt, kündigt die Inspizientin an: „Der Beginn der nächsten Szene verzögert sich auf unbestimmte Zeit.“ Da es gerade nicht weiter geht, tritt Dücker, nun als er selbst, an den Bühnenrand, probt mit den ZuschauerInnen, also dem Sprechchor, eine Szene und räsoniert über den Ödipus-Stoff und die Schuldfrage. Auf dem Weg zum Theater sei er am Marienplatz am Terre-des-hommes-Stand vorbeigekommen. Er habe einen großen Bogen gemacht, um nicht angesprochen zu werden, sich dann aber doch schlecht, irgendwie schuldig gefühlt.
Die wiederholten Unterbrechungen, das Herausspringen aus der Handlung, der abrupte Wechsel von Ödipus zum Anthropozän wirken als Momente der Verfremdung wie im epischen Theater von Bertolt Brecht. Nur dass das O-Team im Gegensatz zu Brecht über keinerlei Gewissheiten verfügt, die es dem Publikum didaktisch vermitteln könnte. Die Probleme gehen uns alle an. „Der Chor der ZuschauerInnen macht sich bereit für die Simulation einer echten Situation“, sagt die Inspizientin: „Und das ist das Achtung für die Vermischung von Realität und Fiktion.“ Nächste Durchsage: „Und das ist das Achtung für das langsam keimende Bewusstsein, dass der Reichtum Europas nicht auf ‚harter Arbeit‘, sondern auf Jahrhunderten der Ausbeutung anderer Kontinente und der Unterdrückung anderer Kulturen beruht.“ Die hier angesprochenen Probleme sind viel zu groß, um auf einer Theaterbühne gelöst oder auch nur dargestellt werden zu können. Es sind die Probleme der gesamten Menschheit, in einer Welt, die nicht zuletzt durch den Einsatz von Technik aus den Fugen geraten ist. Daher auch die Frage nach Schuld und Verantwortung, daher der Rückgriff auf die antike Tragödie, der nicht wirkt wie eine bemühte Aktualisierung des klassischen Stoffs, sondern wie eine Suche nach einem anderen Umgang mit dem Problem, ohne moralisierendes Gut und Böse.
Zwischen Großbaustelle und Künstleroase
Eben die prinzipielle Undarstellbarkeit des Themas macht die vielfachen Brechungen notwendig, um überhaupt einen Abstand herzustellen. Am Ende aber bleibt der Zuschauer seinen eigenen Gedanken überlassen, während sich in Malottas Farbeimer etwas bewegt, das sie als Lichtspiel an die Wand beamt, gefolgt von animierten Zeichnungen und begleitet von vielfach geschichteten Musikspuren. Das Verhältnis zur Technik ist ambivalent. Während im Stück Scheinwerfer ausfallen und der Theaterarzt zur Unterbühne gerufen wird, um nachzusehen, ob noch jemand am Leben ist, haben Hof und Pinto, wie Malotta erzählt, eine ganze Weile getüftelt, um den Chor der Scheinwerferinnen zu konstruieren. Nach der Ambivalenz technischer Errungenschaften, in diesem Fall der Digitalisierung, fragte auch die vorige Produktion „:-Oz“, Untertitel „3D-Plastik-Biohypermedia-Theater“, für die das O-Team nun den Tanz- und Theaterpreis der Stadt Stuttgart und des Landes Baden-Württemberg erhält und die deshalb am 9. April im Theater Rampe noch einmal aufgeführt wird. Es geht um den „Glitch“ – Bildstörungen, die das Medium erst sichtbar machen –, aber auch um das Theater an sich: Inwieweit ist die Anwesenheit realer Körper und Stimmen in unserer durchtechnisierten Welt überhaupt noch nötig? Und nebenbei führt Dücker hinreißende Interview-Dialoge mit der fiktiven Künstlerin Dorothy (Antje Töpfer), nach Aussagen echter KünstlerInnen.
Außerdem greift das O-Team „Transit“ wieder auf: den „Audiowalk in vergangene Zukünfte“ durch das Areal am Inneren Nordbahnhof rund um die Wagenhalle. Über Funk und Kopfhörer erfahren die Teilnehmer etwas über den Kapitalismus als Glaubenssystem und die heterogene Umgebung zwischen Großbaustelle und Künstleroase. Das Stück basiert auf einem Text des bulgarischen Autors Alexander Manuiloff. Dessen Werk „Der Staat“ hat Hof beim Theatertreffen Berlin gesehen: ein Programm ohne Schauspieler über Demokratie und Korruption. Technik ist auch Thema der nächsten Produktion „Crash“. Im Mittelpunkt steht ein echtes Unfallauto. Es geht um den „Unfall als Kehrseite der Technik, die verschwiegen wird“, wie Hof erklärt. Das Stück wird im September in Aalen und München zu sehen sein.
Info:
Zu sehen ist „-:Oz – 3D-Plastik-Biohypermedia-Theater“ am 9. April um 20.30 Uhr im Theater Rampe. Die nächsten Termine von „Transit – Audiowalk in vergangene Zukünfte“ sind am 13. April um 11, 13 und 15 Uhr sowie am 17. und 18. April jeweils um 18 Uhr. Anmeldung über das Theater Rampe, Startpunkt ist am S-Bahn-Ausgang Nordbahnhofstraße.