28. Juli 2022 , KONTEXT: Wochenzeitung
Popcornhirn und Sternenreise
Seit 18 Jahren arbeiten die Künstler:innen des Kunstvereins Wagenhalle am Stuttgarter Nordbahnhof, in der einstigen Instandsetzungshalle der königlich-württembergischen Eisenbahn. Nun präsentieren sie beim ersten Film-Kunst-Fest an der Wagenhalle Filme, die die Vielfalt ihrer Arbeit widerspiegeln.
Eigentlich war es überfällig: Unter den Künstler:innen des Kunstvereins Wagenhalle sind viele, die sich mit Film beschäftigen, eigene Langfilme, Dokumentationen produzierten oder bewegte Bilder in ihre Arbeit integrieren. Doch erst während der Pandemie fanden sie zu einer Gruppe zusammen.
„Im Lockdown haben wir uns zuerst im Zoom getroffen“, erzählt Kristina Arlekinova, die künstlerische Leiterin des Festivals. „Unsere Idee war, zuerst einmal herauszufinden, wer sich in der Wagenhalle überhaupt mit Bewegtbildern beschäftigt.“ Das Ergebnis: 28 von insgesamt rund 150 Mitgliedern des Kunstvereins arbeiten auch oder ausschließlich im Medium Film. Genügend Material, genügend unterschiedliche Ansätze also, fand die Gruppe, um ein kleines Festival zu veranstalten – und machte sich daran, das umzusetzen.
Das erste Film-Kunst-Fest an der Wagenhalle hat am vergangenen Wochenende begonnen. Die Wiese bei der Container-City wurde zum Open-Air-Kino mit Bar, Falafelstand und Popcornstation, während im Projektraum der Wagenhalle eine Ausstellung der Filmkunst eröffnete, die noch bis zum 31. Juli zu sehen sein wird. Am kommenden Wochenende, am Freitag, 29. und Sonntag, 31. Juli, geht auch das Filmfest auf der Wiese weiter. Kurzfilme, Experimentalfilme, Dokumentarisches wird auf der großen Leinwand zu sehen sein, nebst einem abendfüllenden Film.
Langfilm der vergangenen Woche war „Mühlheim Texas – Helge Schneider hier und dort“. Andrea Roggon portraitiert darin Deutschlands witzigsten Vollblutmusiker. Am kommenden Sonntag läuft „Where’s the Beer and when do we get paid“, die Dokumentation, die Wiltrud Baier und Sigrun Köhler alias „Böller und Brot“ Jimmy Carl Black widmeten, dem Schlagzeuger der Mothers of Invention, der ersten Band Frank Zappas. Der mittlerweile verstorbene Black verbrachte seine letzten Jahre in Bayern. Seine Begegnungen mit den Blasmusikern dieses Bundeslandes sind unvergesslich.
Filme über Fundsachen und eine Radtour gen Den Haag
Die Eröffnung des Film-Kunst-Festes lockte mehr als 100 Gäste zur Wagenhalle. Die Stimmung war bestens, die Macher:innen sehr zufrieden. Robin Bischoff, Vorsitzender des Kunstvereins Wagenhalle, zeigte einen Film, für den er Konzerte zusammenschnitt, die anlässlich des 10. Jubiläums der Reihe FFUS (Für Flüssigkeiten und Schwingungen) stattfanden – wilde Musik, wilde Nächte.
Die Ausstellung im Projektraum der Wagenhalle ist das Herz des Festivals. Künstler:innen präsentieren dort Arbeiten, die filmische Mittel vor allem im Zusammenhang mit Installationen nutzen, und die dabei ganz unterschiedliche Wege gehen. Oft wird Kritik an Gesellschaft und Konsumverhalten artikuliert.
Kristina Arlekinova beispielsweise zeigt ein Gehirn aus Popcorn und Zuckerguss und eine filmische Erforschung unterschiedlicher Tropfenformen in vier Kurzfilmen. Álvaro García beschäftigt sich mit der Kunst des Wagenhallen-Künstlers Thomas Putze, Ramona Sophia Mohr mit Körperwahrnehmung und Ästhetik. Irina Rubina schuf einen gezeichneten Kurzfilm zur Jazz Musik („Jazz Orgie“), lässt abstrakte Formen tanzen. Pia Maria Martin, die lange an der Arbeit mit 16-Millimeter-Film festhielt, hat ihre Filme digitalisiert, zeigt sie in kreisförmiger Anordnung und verschachtelt so digitale und analoge Filmtechnik ineinander. Bei ihren Filmen handelt es sich um Stop-Motion-Animationen von Dingen, die auf dem Wagenhallengelände gefunden wurden und die nun zum Leben erwachen dürfen. Am kommenden Sonntag, dem letzten Tag des Film-Kunst-Festes, können Kinder in einem Workshop lernen, wie sie kleine Trickfilme mit ihren Smartphones aufnehmen können.
„Towards the Hague“ ist die knappe Dokumentation einer Radtour, die Sylvia Winkler und Stephan Köperl 2016 nach Den Haag unternahmen, zum internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien. Vorgelassen wurden sie nicht bei Gericht. Vor Ort zu filmen, wurde ihnen ebenfalls untersagt. Im Projektraum sind neben dem Film ihre umfangreichen Recherchematerialien zu sehen. Marie Lienhard indes lädt Besucher:innen ein, alle Schwere abzuschütteln, auf einer Schaukel Platz zu nehmen, eine VR-Brille aufzusetzen und wunderbar durch unbekannte Räume zu fliegen.
Künstler:innen und Eidechsen werden umgesiedelt
Bei all dem bunten Nebeneinander filmgewordener Kreativität ist das Film-Kunst-Fest auch ein Abschied, denn: Die Tage der Container-City sind gezählt. 2003 konnte der Abriss der Wagenhalle dank einer Initiative vieler politischer und kultureller Akteure gestoppt werden. 2017 begann die Sanierung der Halle, die Künstler:innen mussten ihre Ateliers räumen – und schufen auf dem Gelände vor der Halle ihre Stadt aus Containern, Arbeits- und Ausstellungsräumen, mit einem Marktplatz und der „Neuen Schachtel“ als Konzert-Location, Container für Live-Musik abseits von Mainstream und Kommerz. Ein Areal, auf dem sich viele Feste und Begegnungen zutrugen, ein Provisorium, von dem sie bis zuletzt hofften, dass es zur Institution werden könnte.
Der Beschluss der Stadt jedoch, auf eben diesem Gelände die Stuttgarter Interimsoper zu errichten, konnte nicht gekippt werden. Alternativen wurden diskutiert, längst aber steht fest: Ende Oktober muss das Containerdorf zurückgebaut werden. Die Eidechsen, die auf dem Gelände um die Container leben, werden dann ebenso umgesiedelt wie die Künstler:innen. Eine Baustellenzone kommt – und das Film-Kunst-Fest wird zum Fanal für die Container-City, diese Metropole der Stuttgarter Off-Kultur, zum letzten Happening und zum Selbstportrait, mit vielen Filmbildern, die in den Jahren dort entstanden, um Alltag und Atmosphäre zu bewahren.
Lisa Biedlingmaier hat das Containerdorf gefilmt, ganz zu Beginn. Ihre Arbeit ist Teil der Ausstellung im Projektraum der Wagenhalle, als einzelne Installation positioniert auf dem großen Würfel, der in diesem großen Raum steht: rund 30 Minuten lange, ruhige Filmsequenzen. Die Kamera schweift über das Gelände, betritt die einzelnen Container, driftet wieder hinaus. 2017, als diese Bilder entstanden, fand in Kassel und Athen die Documenta 14 statt; Radiosendungen zum Thema sind im Film zu hören, neben den Geräuschen der nahen Natur, des ebenfalls nahen Straßenverkehrs: Widersprüche, die aufeinandertreffen und die Container-City zu einem Raum zwischen den Welten werden lassen. Dazu, in der Ferne, die große Kunstschau, die Utopie. „Hearing about Athens“, hat Lisa Biedlingmaier ihren Film genannt.
Ein anderes Portrait des Kunstvereins zeichnet Anne Westermeyer in ihrem Langfilm „Weiber im Weltraum“: Sie besuchte alle Künstler:innen der Wagenhalle, drehte mit ihnen episodische Kurzfilme, improvisierte – die Zuschauer:innen erleben, auf witzig-absurde, oft überraschende Weise, was sich alles tut in den Ateliers: Skulptur, Malerei, Performance, Musik als Filmcollage einer Sternenreise am Stuttgarter Nordbahnhof. Westermeyers Film wird als letzter Beitrag zum Film-Kunst-Fest am Sonntagabend auf der Containerwiese zu sehen sein. 2023 dann soll es das nächste Film-Kunst-Fest an der Wagenhalle geben.